… 1772 Gramm schwer, 29 farbige und 74 schwarz-weiß Illustrationen, eine siebeneinhalb Seiten lange Literaturliste, ein zwanzigseitiges Namensregister, 2 Zeittafeln (4 Seiten), eine Ahnengalerie (2 Seiten), einunddreißig Seiten Anmerkungen, ein Vorwort (3 Seiten), eine Seite Danksagungen, eine editorische Notiz (4 Seiten), 17 Seiten Einleitung und eine unzählige Zahl an Briefen, da sage noch jemand, Bücher seien zu teuer, denn all das bekommt man geliefert für wohlfeile € 38,00, wenn man sich das Buch Fritz Overbeck und Hermine Overbeck-Rohte · Der Briefwechsel bestellt, das gerade von Katja Pourshirazi herausgegeben und von der renommierten, seit über 85 Jahren existierenden DCV – Dr. Cantz’schen Verlagsanstalt in Berlin publiziert wurde.
Nun allein sollte man den Wert eines Buches nicht nur nach seiner Seitenzahl zwischen den beiden Buchdeckeln, seinem physischen Gewicht und der Zahl seiner Dreingaben beurteilen, das versteht sich, aber was diese opulente Arbeit vorführt, ist das Ergebnis einer überaus sorgsamen Herausgeberschaft und eine editorische Hochleistung.
Zwei Schwergewichte
Nun, da haben sich zwei überaus kompetente und professionell jenseits jeden Verdachts stehende Elemente zusammengetan. Einmal ist es die Herausgeberin selbst, die man in Bremen, Norddeutschland und in den Kreisen, die sich um die Worpsweder und Fischerhuder Maler bewegen, bestens kennt, vor allem als Leiterin des rührigen und angesehenen Overbeck-Museums in Bremen-Vegesack, das sich im Mittelpunkt um die Pflege der Werke des Worpsweder Malerpaars Fritz Overbeck und Hermine Overbeck-Rohte kümmert, aber auch anderen Künstlern großzügige Gelegenheiten gibt, ihr Schaffen zu zeigen.
Darüber hinaus beweist das Museum eine einfallsreiche und vorbildliche Aktivität in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Schulen, aber auch mit Gruppen, deren Wege normalerweise nicht als erstes in ein Kunstmuseum führen. Ein kulturelles Highlight im nördlichsten Stadtteil der Stadt Bremen, der immerhin hunderttausend Einwohner hat, der aber gerne und leicht einmal aus der Perspektive des 20 km entfernten Zentrums der 38 km entlang der Weser liegenden Hansestadt vergessen wird.
Das zweite Schwergewicht bei dieser Produktion ist der Verlag, die DCV, in der die edition cantz aufgegangen ist. Der 1933 in Süddeutschland unter dem Namen Dr. Cantz’sche Druckerei gegründete Verlag verkörpert eine lange Geschichte in der Publikation hochwertiger Kunstbücher und bibliophiler Ausgaben, sein Portfolio umfasst außer Ausstellungskatalogen und Monografien über zeitgenössische Kunst Bücher über Fotografie, Architektur, Design und Mode. Ein Garant für die Herstellung solch ambitionierter Produktionen.
Eintauchen
Es ist immer wieder ein Erlebnis, vergangene, wenn auch "nur" um die 100 und weniger Jahre zurückliegende Zeiten durch die Lektüre von Korrespondenzen aufleben zu lassen. Und die vor uns liegende Sammlung (man muss das Buch schon auf dem Tisch liegend lesen, ich erwähnte doch anfangs schon sein Gewicht…) erzählt so viel über das Leben dieser beiden Künstler, auch von den Nöten, Hermine ist viel krank, eines ihrer drei Kinder, die Tochter Anne, stirbt einige Tage nach iher Geburt. Viel erfährt man über die Worpsweder Künstlergruppe, ihre Zeitgenossen, Freunde, manchmal auch Neider. Kennengelernt haben sich die beiden im gleichen Jahr 1869 geborenen Overbecks im Sommer 1896. Hermine kam nach ihrem Studium am Münchener Künstlerinnen-Vereins nach Worpswede und wurde Schülerin von Fritz Overbeck. Dieser war zu der Zeit schon ein erfolgreicher und in der Kunstszene bekannter Maler. Sie hatte Gemälde von ihm bei einer Ausstellung in München kennengelernt, die im gleichen Jahr 1896 stattgefunden hatte.
Man kann ahnen oder weiß auch aus anderen Quellen, dass es in den freien Milieus des Worpsweder Künstlerdorfs recht frei herging, aber gewisse, aus unserer heutigen Sicht strenge Regeln, wurden eben nach außen gewahrt. Aber aus diesen Briefen, gerade aus ihren ersten Jahren, strömt glaubhaft tiefe gegenseitige Liebe und Zuneigung und großes Vertrauen zwischen den beiden Schreibenden. Ach, dieser Seufzer in Zeiten so flott und hektisch in die virtuelle Hemisphäre geworfener Wortwechsel sei erlaubt: wie schön ist es, in die Leben zweier Personen auf dem Wege von brieflichen, mit der Feder verfassten Korrespondenzen einzutauchen und dabei die historischen, kulturhistorischen Verhältnisse nachvollziehen zu können, die sie umgaben und die ihre Kunst beeinflussten.
Sorgfalt und Sachkenntnis
Diese beiden Kriterien sind es vor allem, die einem immer wieder ins Auge springen, die bei dieser vorbildlichen Ausgabe Pate gestanden haben, sowohl im inhaltlichen wie gestalterischen Prozess. Keiner, der diese Rezension jetzt liest, würde mir abnehmen, dass ich womöglich alle die abgebildeten Briefe gelesen haben werde, aber man kann einsteigen an welcher Stelle des Buches auch immer, man liest sich immer wieder fest. Das für solche Werke oft vergessene, aber elementare Handwerkszeug eines Lesefadens ermöglicht es dem Leser auch jederzeit, von den Briefen in die Anmerkungen und sonstigen hinteren Teile der Ausgabe zu springen. Und gerade dort wird der hohe wissenschaftliche Anspruch sichtbar, den die Herausgeberin und der Verlag an ihre Arbeit gestellt haben.
Einen kleinen Einwand muss ich erheben: die meisten der Faksimiles der Briefe sind leider nur schwer lesbar, nicht wegen eventueller Schwierigkeiten, Handschriften zu entziffern, das übt sich. Aber oft sind sie dergestalt reproduziert, dass die jeweiligen, dann spiegelverkehrt durchscheinenden Rückseiten der Briefe die Lektüre erschweren. Das hätte man fototechnisch sicher besser lösen können. Aber erfreulich viele Reproduktionen der Briefe, zahlreiche Fotos und diverse Abbildungen der Werke der beiden oder anderer Freunde oder Kollegen aus der Worpsweder Kunstszene jener Zeit illustrieren überaus abwechslungsreich die Ausgabe.
Briefe bis ans Ende
Leider war dem Künstlerpaar keine sehr lange gemeinsame Zeit vergönnt. Fritz starb nur dreizehn Jahre nach ihrem Kennenlernen am 8. Juni 1909, an einem Schlaganfall, auf ihrem letzten gemeinsamen Wohnsitz in Bröcken (heute Teil von Bremen-Schönebeck). Aber bis zu ihren letzten gemeinsamen Tagen reicht die Post zwischen den beiden. Fritz schreibt Hermine nach Davos, wo sie ihre Lungentuberkulose ausheilte, am 29. Mai noch einen langen Brief, der endet mit: "Es geht uns hier ganz prachtvoll, wie geht es Dir denn?"
Und sie schreibt ihm ihren letzten Gruß auf einer Postkarte vom 31. Mai in dem gleichen liebevollen Ton, den wir in ihrem intensiven Briefwechsel durch dieses Buch kennenlernen durften:
"L.F. Da ist eben Dein Brief mit dem Gruß der Kinder mir ein lieber Morgengruß gewesen. Heute ist strahlende Sonne, ein richtiger Pfingstmorgen, u. ich werde gleich einen kleinen Weg (den ersten wieder!) auf dem Rütiweg machen. Besser geht's entschieden, wenn auch noch allerlei fehlt, bis es wieder so gut ist wie vorher. Da ich aus Deinem Brief sehe, wie gern Ihr Gerda behaltet, so will ich auch damit einverstanden sein, umso mehr, da ich doch bald zu kommen hoffe, Wann? weiß ich ja freilich noch nicht. Verzieht das Kind nur nicht! - Ob der Garten wohl schön ist? Grüße Mama u. Fräulein H. sehr herzlich u. denkt oft an Deine Hermine."
Sie ist dann aber doch sehr schnell nach Bröcken zurückgekehrt, am 5. Juni schon, also nur drei Tage vor seinem Tod. Hermine starb 28 Jahre später, am 29. Juli 1937, durch einen Autounfall in Bremen.
Beide sind im Familiengrab der Overbecks auf dem Waller Friedhof in Bremen begraben.
Weblinks:
Overbeck Museum | Vegesack: https://overbeck-museum.de/
DCV - Dr. Cantzsche Verlagsbuchhandlung: https://bit.ly/2NCTzp3
Zeittafeln von Fritz Overbeck und Hermine Overbeck-Rohte: https://t1p.de/ogsw
Wenn Du willst, kannst Du mir gerne Deinen Kommentar schicken, und zwar an diese Mail-Adresse: blog.guenny@mercadodelibros.info - Ich freue mich über jede Reaktion.
Comments