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AutorenbildGuenter G. Rodewald

Alcinissima!

Aktualisiert: 2. Okt. 2022


Nach Otto Marseus van Schrieck

Als eingestandenermaßen unerfahrener Besucher von Barockopern habe ich vor der Premiere der ‚Alcina‘-Produktion am THEATERBREMEN versucht, mich bestmöglich auf den Abend vorzubereiten. Einmal im Anhören einiger per den einschlägigen virtuellen Systemen angebotenen Aufnahmen, wie aber auch im Verstehen der Handlung.

Ersteres war ausgesprochen angenehm, zumal immer wieder Arien auftauchten, die einem als Liebhaber klassischer Musik geläufig waren, von denen ich vorher aber nicht immer wusste, dass sie der ‚Alcina‘ zuzuordnen waren. Allerdings der Versuch, den Verlauf des Geschehens dieser Oper nachzuvollziehen, war dann doch mit gewissen Schwierigkeiten verbunden, denn unbestreitbar ist er schlichtweg verwirrend.


Also entschloss ich mich, ganz unvorbelastet den Abend auf mich wirken zu lassen. Doch schon beim Betreten des Zuschauerraums und dem ersten Blick in Richtung Bühne setzte Erstaunen ein: man sah auf ein durch LED-Leuchtspuren konturiertes Einfamilienhaus vor schwarzem Hintergrund, davor ein paar eher geschmacklos gestylte an der Bühnenkante abgestellte Bürostühle. An der Seite ein in gleicher Manier gezeichneter Mittelklasse-PKW. Das Bühnenportal selbst in Richtung der Zuschauer verlängert, mit ausgebrochenen leuchtroten Kanten, die dem Rand einer Comic-Sprechblase ähnlich schienen. Das alles ließ nun wirklich keinerlei barocke Assoziationen entstehen. Man durfte also gespannt sein.


Schon während das Orchester die Ouvertüre anstimmte, betraten die ersten Akteure die Bühne, auf den Stühlen am Bühnenrand nahmen die Sänger des Ruggiero und der Bradamante, diese verkleidet als Mann, der Reigen konnte beginnen. Das Reihenhaus verschwindet im Schnürboden, ihm entgegen werden bunte, recht monströse Kulissen wie in einem echten Barocktheater heruntergelassen, auf denen Thilo Reuter, der Bühnenbildner, Motive aus Gemälden des holländischen Barockmalers Otto Marseus van Schrieck (1619/20-1678) integriert hat.


Marysol Schalit als Alcina und Ulrike Mayer als Ruggiero - Foto: Jörg Landsberg

Ein ausgesprochen farbenfreudiges wie kurioses Treiben beginnt sofort zwischen den Solisten und ebenso dem Chor, der in den Masken der Tiere auftaucht, in die Alcina ihre Liebhaber so gerne verwandelt, die Männer, die sich entweder von ihr abgewandt haben oder an denen sie selbst die Lust verloren hat. Und auch in Steine, Reptilien und sonstige so gar nicht mehr menschliche Materie verhext sie ihre Umwelt mit Lust. Unsympathisch wird sie einem dennoch nicht, zumal sie so wunderschöne Arien zu singen hat!


Ach ja, die Handlung: trotz der Unterstützung durch die deutschen Obertitel kommt bei mir immer noch keine größere Klarheit auf, zumal - wenn man in einer der vorderen Reihen des Parketts sitzt - man zwischen den Blicken auf die Leuchtschrift oben und dann wieder auf die Bühne unten Gefahr läuft, dass die Verbindung zum Geschehen zusätzlich abreißt.


Also entschließe ich mich sehr bald, die ganze Aufführung nur noch mit ihren optischen und akustischen Reizen auf mich wirken zu lassen, ohne den Ehrgeiz, die etwas aus der Zeit gefallene story verstehen zu wollen. Und komme somit voll & ganz auf meine Kosten.


Die Sängerinnen und Sänger müssen mit den Koloraturen, die ihnen der gute Händel in seiner Partitur abverlangt, Schwerstarbeit verbringen. Was sind das für Partien, die sie beherrschen und präsentieren müssen, aber mit welcher Leichtigkeit und Brillanz sie sie gleichzeitig uns im Publikum darbieten!


Allen voran Marysol Schalit als Alcina mit ihrem funkelnden bis warmtönenden Sopran. Ihr geradezu herzerweichendes "Ah! Mio cor, schemito sei!" bildete vielleicht den Gipfel der Darbietungen des Abends. Warum haben wir ihr nicht noch länger Szenenapplaus geschenkt, um ihr ein Dacapo der Arie zu entlocken?


Und ebenso souverän und nahegehend, trotz der etwas undankbaren Rolle als versagender und am Ende von Alcina verschmähter Liebhaber, Ulrike Mayer als Ruggiero. Ihr "Verdi prati" wurde der zweite sängerische Höhepunkt des Abends.


Und es macht so einen ungeheuer großen Spaß, diesen Künstlern nicht zur zuzuhören, sondern auch zuzusehen. Als etwas älterer Besucher des Theaters am Goetheplatz habe ich noch plastisch die gute alte Zeit der mächtigen Kammersängerinnen und -sängern vor Augen, wie eine Lieselotte Thomamüller, einen Caspar Bröcheler oder einen Hermann Schnok, allesamt mächtige Gestalten, die wunderbar sangen, aber - bei allem Respekt - eben eigentlich nur das taten, dabei aber fast nur herumstanden, vielleicht mal mit den Augen rollten oder eine Faust zum fortissimo ballten.


Es erfreut so sehr, dass das heute so ganz anders ist, woran natürlich auch solche Buhnenmeister wie der regieführende Michael Talke ihren Anteil haben. Er verlangt seinen Sängern sehr viel ab, aber ganz offensichtlich gibt es ein großes Verständnis zwischen ihnen, denn eine überbordende Spielfreude, die man spürt, bis hin zur körperlichen Verausgabung, ist das Ergebnis.


Ohne Einschränkung gilt das für alle Solisten des Abends, die ohne Ausnahme gesanglich, wie in ihrer Darstellung glänzen und niemand von ihnen in irgendeine Richtung abfiele: Nerita Pokvytyté als Morgana, Candida Guida als Bradamante, der längst zum Bremer Publikumsliebling avancierte schalkhafte Luis Olivares Sandoval, gewissermaßen der 'Pizarro' der Bremer Opernmannschaft, und neu als Mitglied des Ensembles Stephen Clark als Melisso.


Und nicht zu vergessen der Chor des Theater Bremens (Direktorin Alice Meregaglia), dem eine fast teuflische Lust am Agieren anzumerken ist.


Marysol Schalit und der Chor des Theater Bremen- Foto: Jörg Landsberg

Das alles umso ansehnlicher ist, ist den (im ersten Teil) farbenfrohen bis blendenden Kostümen von Regine Standfuss zu verdanken, die dann im zweiten Teil - dem Ernst der dramatischen Entwicklung des Stoffes entsprechend und geschuldet - verblassen und allen Frohsinn ablegen.


Die Bühne von Thilo Reuther und die Lichtregie von Christian Kemmetmüller haben beide ein großes Verdient daran, das auch das Auge zu seinem guten Recht kommt. Ausgesprochen gut gelungen das Gruselkabinett der in ihren grausamen Facetten unersättlichen Alcina, das hin und wieder aus der Unterbühne auf die Augenhöhe des Zuschauers heraufgefahren wird.


Es bleibt noch - beileibe nicht nur so am Ende - die überzeugende Vorstellung der Bremer Philharmoniker und der Solisten an den verschiedenen Instrumenten der Continuos zu erwähnen, alle unter dem meisterlichen Dirigat von Marco Comin, dem man auch in der Zukunft weiter am Bremer Theater zuhören möchte.


Der Abend: eine prächtige Ensembleleistung mit sehr hohem solistischem Können, in einer munteren, phantasievollen und kurzweiligen Inszenierung, die vom Publikum des Premierabends mit nahezu frenetischem Applaus belohnt wurde.


In einem Wort: Alcinissima!

 

Randbemerkung 1: Nach der sonntäglichen Premiere fand im Foyer des 1. Rangs die öffentliche Premierenfeier statt. Eine schöne Einrichtung. Intendant Michael Börgerding hielt eine gutgelaunte Rede und präsentierte den Gästen noch einmal alle an dem Erfolg Beteiligte, die Solisten, den Chor mit ihrer Leiterin, das Ausstattungs- und Regie- und Dramaturgie-Team, den Dirigenten und die Bremer Philharmoniker, sogar die Statisterie.


Für alle gab es so noch einen weiteren herzlichen und intensiven Applaus, wie schon vorher auf der Bühne. Diese Art des Ausklangs des Premierenabends schafft eine fast familiäre Atmosphäre. Weit mehr als eine Marketingidee, es ermöglicht den Zuschauern, sich den Protagonisten des Abends zu nähern, wie diese ihrem Publikum näherkommen können, als das von oben von der Bühne herab möglich ist.


Randbemerkung 2: Ich mag diese kleinen Programmhefte, die das THEATERBREMEN jeweils zu den Premieren herausbringt. Das Heft zu ‚Alcina‘ trägt die Nummer #64. Es enthält Fotos von den letzten Proben, in diesem Fall sind sie von Jörg Landsberg, u.a. Gespräche der Dramaturgin Dany Handschuh mit Regisseur Michael Talke und dem Musikalischen Leiter Marco Comin und einen Artikel über das Bühnenbild von Thilo Reuther und die Kostüme von Regine Standfuss und einige Aufsätze mehr.


Was bedauerlicherweise gänzlich in dem Heft fehlt, sind die biografischen Daten über die Protagonisten der Inszenierung. Da ich in den Besitz der Pressemappe kam, konnte ich mir ein recht komplettes Bild von dem Team machen. Für alle, die in den gleichen Genuss kommen möchten, hier die entsprechenden Seiten zum downloaden.

Wäre schön, wenn man diese Daten in Zukunft in die Programmhefte aufnähme.

 

Die nächsten Aufführungen:


Fr 15.11.2019 – 19:00 Uhr

Sa 23.11.2019 – 19:00 Uhr

Fr 6.12.2019 – 19:00 Uhr

So 15.12.2019 – 18:00 Uhr

Do 9.1.2020 – 18:00 Uhr

So 19.1.2020 – 15:30 Uhr

Mi 5.2.2020 – 19:00 Uhr


 

Wenn Du willst, kannst Du mir gerne Deinen Kommentar schicken, und zwar an diese Mail-Adresse: blog.guenny@mercadodelibros.info - Ich freue mich über jede Reaktion.

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