Gestern vor 22.155 Tagen…
- Guenter G. Rodewald
- 4. Mai
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 5. Mai

4. Mai 2025 · … oder vor guten 60 Jahren, so hatte es mir das Internet ausgerechnet, war es, dass es geschah, dass ich mich mehr oder weniger an genau der gleichen Stelle befunden hatte wie am gestrigen Abend: damals, ganz genau am 5. September des Jahres 1964, war es, dass ich über die gleiche Bühne des gleichen Theaters lief, auf der ich gestern als Zuschauer saß. Damals war es die Premiere von »Cosi fan tutte« [1], in deren Inszenierung ich im jungen Alter von noch 14 Jahren – in allerhöchster Aufregung – die Bühne ganz allein als Camariere das Bühnenbild der Terrasse des Kaffeehauses betrat, in dem das Vorspiel von Mozarts wunderschöner Opera buffa spielt, um den drei männlichen Protagonisten Don Alfonso, Ferrando und Guglielmo ihren Espresso zu servieren, bevor sie per deren Terzett ihre Wette um die Legende der fede delle femmine abschließen konnten.
Gestern also durfte ich auf derselben Bühne Platz nehmen, und wieder in der Umgebung eines auf die Bühne gebauten gastronomischen Betriebes (Szenenbild: Harald Thor), dieses Mal aber war es statt eines Kaffeehauses der angedeutete Saal des KitKat-Clubs, einem der zentralen Spielorte des Musicals »CABARET«, das gestern Abend die Premiere seiner Erstaufführung im Theater am Goetheplatz feiern durfte.
Ein genialer Regiestreich: CABARET zweidimensional
Ja, die Aufführung lief sowohl vor dem Publikum ab, das auf seinen gewohnten Sitzen des Parketts, des 1. und 2. Ranges des Theatersaals saß, aber eben auch vor Zuschauern, die an Bistrotischen auf einer Zuschauertribüne auf dem hinteren Teil der Hauptbühne Platz nehmen durften, in zwar geringerer Zahl als im Saal, aber grob geschätzt so um die hundert Personen waren wir da oben wohl auch. Dazu wurden wir dort sehr privilegiert vor Beginn der Vorstellung von den Kit Kat Girls & Boys mit Getränken freier Wahl versorgt und sehr persönlich, nahezu intim, von ihnen begrüßt.
Auf einer in mittlerer Höhe und in die ganze Breite des Bühnenportals gebauten Brücke musizierte die virtuos aufspielende zehnköpfige Band des Abends, unter der virtuosen Leitung von Michelle Bernard. Und ebenso traten auf der Hochbühne auch immer mal wieder die Solisten und die Kit Kat Girls & Boys auf und sangen von da oben.

Die Darsteller spielten aber auch eben den ganzen Abend hindurch immer in beide Richtungen des Publikums, also vor dem, das vor der Bühne sass und uns, die wir hinter ihr saßen. So agierten auch zwei Conférenciers, statt des gewohnten allein auftretenden, die synchron ihre Songs vortrugen, und eben auch sowohl nach „vorne“ wie nach „hinten“, wie die bekannten Songs »Willkommen, bienvenue, welcome«, »Welcome to Berlin« oder »Money Money«. Großartig beide, Mirjam Rast und Martin Baum, darstellerisch, gesanglich wie tänzerisch bis artistisch.
Starensemble
Es wäre kaum gerecht, irgendjemanden aus dem fulminanten Bühnenensemble hervorzuheben, alle, nun wirklich alle - wie die beiden bereits erwähnten - agierten, sangen, tanzten auf dem allerhöchsten Niveau. Die gesamte Produktion könnte genauso auf den besten Bühnen der Welt auftreten, und genau deshalb seien sie hier allesamt ausdrücklich erwähnt: Levin Hofmann als Cliff, Christian Freund als Ernst Ludwig, Susanne Schrader als Frl Schneider, Guido Gallmann als Hr. Schultz, Nadine Geyersbach als Frl. Kost und als KitKat Girls & Boys, Matrosen, Zollbeamte, SS-Scherg:innen und als Gorilla Mädchen: Ariel Agramonte Rivero, Sofia Engel, Vivienne Kaarow, Neus Ledesma Vidal, Karl Rummel, Selma Weinhold Mejias und Antonio Jorgos Papazis.
Und doch muss ich eine der Darstellerinnen/Sängerinnen dennoch hervorheben; ich gehe so weit zu behaupten: A star is born, anders würde man dem Spiel, aber vor allem auch dem Gesang und der Stimme von Lieke Hoppe in der Rolle der Sally Bowles nicht gerecht. Kalt über den Rücken lief es einem, verzückend ihre Interpretation von »Maybe This Time«, das sie - getreu dem Konzept der Inszenierung - zu einer Hälfte Richtung Norden des Theaters sang und schmetterte und zur anderen gen Osten der Bühne. Unvergesslich!
Und mindestens genauso gehört die rasante, das gesamte Stück durchrauschende Choreografie von Tomas Bünger hervorgehoben und auf das Höchste gelobt.
Das Bühnenbild: klar, schlicht, durchlässig und -sichtig vom schon erwähnten Harald Thor mit seinen zwei Mini-Drehbühnen schaffen dem Stück und seinen Spielern perfekte, abwechlslungsreiche unbd überraschende Spielvarianten, die Kostüme von Andrea Schaad halten sich in keiner Weise zurück - wäre auch unangebracht, befinden wir uns doch inmitten der bewegten, wenn auch sich dem Ende zu neigenden Weimarer Zeiten.
Sie kommen immer erst am Ende zu ihrem Recht: aber die ausgeklügelte Lichtregie von Christian Kemmetmüller und die perfekte akustische Beschallung durch das Trio Matthias Kluge, Charel Bourkel und Dennis Weitkunst verdienen hohen Respekt.
Gay Movement & Isherwood
Diejenigen, die sich an die Zeit des Beginns und der ersten Jahre des Gay Movements in den Staaten und der sich bald auch in unserem Land zu Wort und Tat meldenden Schwulenbewegung erinnern oder - wie der Rezensent - sie selbst erleben durften, er besinnen sich sicher gut, dass das Musical »CABARET« dabei eine wichtige Rolle spielte, vor allem mit der Filmversion im Jahre 1972, mit Liza Minelli, Michael York, Helmut Griem., das Musical hatte seine Uraufführung allerdings bereits 1966 am Broadway erlebt, übrigens mit der legendären Lotte Lenya als das Frl. Schneider.
In die Zeit fielen ebenso der Film »The Rocky Horror Picture Show« (1975), sowie auf einer anderen, der literarischen Ebene die Werke von dem britisch-US-amerikanischen Schriftsteller Christopher Isherwood (1904 - 1986), dessen offene Homosexualität lange eine untergeordnete Rolle in der deutschsprachigen Rezeption spielte. Die aber dann ihren Durchbruch durch »CABARET« erlebten, bildeten doch zwei seiner Werke – »Mr Norris Changes Trains« (London, 1935) und »Goodbye to Berlin« (London, 1939) - die Grundlage für das Libretto des Musicals.
Isherwood kam 1929 nach Berlin, im Alter von 25 Jahren, kannte also die Stadt und das damaliges Leben in der Subkultur, er hatte seine Liebschaften und lebte in Schöneberg, Kreuzberg und in Tiergarten. Bis er aber 1933 wegen der politisch sich dramatisch zuspitzenden Verhältnisse, speziell auch gerade wegen der zunehmenden Verfolgung von Schwulen durch die Nazis, die Stadt wieder verliess und sich in verschiedenen Ländern aufhielt.
Drastischer / Sensibler Umgang
Die Konstruktion dieses Musicals hat zwei Schwerpunkte: der erste Teil, das des wüsten hemmungslosen Treibens, das tolle Leben, die offene Liebe, all das zeigt diese Produktion und hält sich dabei auch in keiner Weise zurück - in den verschiedenesten Stellungen und Kombination wird auf der Bühne kopuliert. Das Theater schützt sich sogar vorsichtshalber gegen verschreckte Reaktionen im Publikum durch einen diskreten, aber unmissverständlichem Hinweis auf seiner Homepage:
Die Inszenierung thematisiert Nationalsozialismus und Antisemitismus. Es werden zeitgeschichtliche Symbole wie das Hakenkreuz (in Form einer Armbinde) sowie eine angedeutete Darstellung des Hitlergrußes gezeigt. Außerdem enthält die Inszenierung Szenen mit körperlicher Gewalt, thematisiert Alkoholismus, Abtreibung und die explizite Darstellungen sexueller Handlungen.
Der zweite Teil, in dem die 'neuen' Zeiten das Leben der Stadt und des Landes immer mehr verändern, offene Gewalt nimmt sich ihren Raum, deren erste Spuren bereits im ersten Teil gelegt wurden: der Antisemitismus am Beispiel der Beziehung der Pensionsbetreiberin Frl. Schneider und dem jüdischen Obsthändler Herrn Schultz, all das verkörpert durch die SS-Schergen, die Hakenkreuz-Symbole und der offen ausgetragenen Gewalt.
Sehr einfühlsam gesungen und so gar nicht in dem martialischen Maß und Gegröle endende »Tomorrow Belongs to Me« , wie man es aus der Filmversion im Ohr hat. Überhaupt tun die leisen Töne der Inszenierung gut, in den Liebesdialogen von Sally und Cliff oder von Frl. Schneider mit Herrn Schultz.
Ach ja, und das Schlussbild bleibt in Erinnerung: die Bühne schwarz und dunkel, nur auf den zwei Drehbühnen, jeweils mit einem Verfolgerscheinwerfer schrill in weißes Licht getaucht: die Kostüme des Abends von den Spielern auf einen hohen Haufen geschichtet, so wie sich einem die Bilder auf den Fotos der Kleiderberge der ermordeten Insassen der Konzentrationslager eingebrannt haben. Und auf dem zweiten Drehteller zusammengeschichtete und -gestellte Koffer der von den Nazis Verschleppten oder verjagten Exilanten. Ein starker Schluss. Bis der erste Beifall fiel, wurde saalweit auch erst einmal geschluckt.
Und alles das nur einen Tag, nachdem das Bundesamt für Verfassungsgschutz die AfD für 'insgesamt rechtsextremistisch' erklärt hat. Kann Theater aktueller sein?

Am Ende?
So mancher wird an dem Abend immer auch mal wieder an Michael Börgerding gedacht haben, oben auf der Bühne, wie unten im Publikum. Denn diese Produktion hatte er für diese Spielzeit noch entscheidend und mit großer Lust mitgeplant, er hatte ja ein Faible für ‚gute‘ Musicals; siehe »Hello Dolly!« (2022 mit Gayle Tuff, Wiederaufnahme 2025). Und er hat sicher ganz gezielt und mir seiner ihm eigenen glücklichen Hand Andreas Kriegenburg für die Regie geangelt. Denn man kannte sich aus gemeinsamen Arbeiten, z.B. aus der Produktion von »Don Quichotte« 2005 am Hamburger Thalia Theater, wo Börgerding als Chefdramaturg tätig war. Und ich vermute, wohl fast jeder vermisste eine seiner legendären Dankesreden bei der Premierenfeier im Foyer des 1. Ranges… Sie wäre mindestens so begeistert und dankbar ausgefallen wie der stürmische Applaus des gestrigen Premierenpublikums.
Ein erneutes Mal? Ganz sicher!
Ob man das Bremer »CABARET« lieber traditionell aus dem Zuschauerraum genießen möchte oder eher aus der Hinterhaus-Perspektive, das kann jeder nach seinem Gusto entscheiden. Ich werde es mir aber auf jeden Fall ein zweites Mal ansehen, dann vorne aus dem Parkett oder oben vom 1. Rang aus, um die diesseitige Version kennenzulernen, aber einfach auch deshalb, weil ich diese wunderbare Produktion noch ein zweites Mal in vollen Zügen genießen möchte. Ich weiß, es wird ein zweites Vergnügen werden und noch ein ganzes zweites und obendrein ganz anderes Schauspiel abgeben.


[1] Schmidt, Dietmar, Kurt Hübner - Von der Leidenschaft eines Theatermenschen, Leipzig 2006, S. 227
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