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My Ghost Writers: Carl Sinó

Autorenbild: Guenter G. RodewaldGuenter G. Rodewald
Carl Sinó im Teatre-Museu Dalí von  Figueres
Carl Sinó im Teatre-Museu Dalí von Figueres

02.02.2025 - Immer wieder biete ich Autoren und Autorinnen, mit denen ich befreundet und/oder ich mich verbunden fühle, meinen Blog an, um auf ihm unter der Rubrik My Ghost Writers deren Artikel, Meinungen, Interviews oder Erzählungen zu veröffentlichen. Heute ist es der katalanische Journalist und Kolumnist Carl Sinó, den ich vor recht langen Jahren in meiner damaligen Wahlheimat Spanien, bzw. Katalonien kennengelernt hatte. Heute lebt Carl zwischen Figueres und Bremen.


Mein Mann Hartmut und ich verbrachten viele unserer freien Zeiten in Figueres, die unter anderem durch Salvador Dalí und Federico García Lorca bekannte Stadt im Nordosten Spaniens. Wir bewohnten eine kleine Wohnung in einem abgelegenen alten Dorf in der Nähe, aber hielten uns auch sehr oft in Figueres selbst auf; unsere Einkehr in das historische Café Royal gehörte bei jedem Besuch der Stadt zu unserem Repertoire.

Das Café Royal in Figueres
Das Café Royal in Figueres

Leider gibt es das Royal seit 2016 nicht mehr, 99 Jahre zuvor - 1917 - war es eröffnet worden. Es war eines jener Cafés, die ihren Flair des Modernisme, dem katalanischen Pendant zum Art nouveau, über die fast hundert Jahre bewahrt hatten. Auch der Kellner Antonio, auch damals schon ein Faktotum aus lang vergangenen Zeiten, den wir in den »langsamsten Kellner Kataloniens« getauft hatten.


Persönlichkeiten wie der Maler Salvador Dalí, der Dichter Federico García Lorca, der Filmregisseur Luis Buñuel, Schriftsteller wie Albert Pla oder Carles Fages de Climent gehörten zu den Gästen des Cafés. Hartmut und ich lernten im Royal - irgendwann Ende der 80-er Jahre - eine der beiden unserer engsten zwei Freundinnen in Spanien kennen, zu denen ich auch heute nach wie vor wunderbare Beziehungen habe. Und natürlich zu Carl Sinó, der mittlerweile zwischen Bremen und Figueres und den ich jetzt aber selbst zu Worte kommen lasse: er hat ein schönes Porträt eines meiner allerbesten Bremer Freunde und dessen Laden für Männermode geschrieben, das es verdient, hier veröffentlicht zu werden. So herzlich, wie Carl schreibt, könnte es fast von mir stammen. Aber Carl schreibt einfach viel besser als ich es könnte... Erschienen ist der Artikel in der Nummer #101 des SCHWACHHAUSER · Magazin für Bremen, am 1. Februar 2025 .

 

Mit Bremer im Gespräch

Plauderei mit Holger Mertins · KONTRAST Männermode

Von Carl Sinó

Mertins mag Männermode · Foto: Konstantin Zigmann
Mertins mag Männermode · Foto: Konstantin Zigmann

Vom Buch zum Tuch


Der Fedelhören als Viadukt zwischen der Altstadt, den Wallanlagen Bremens und in nordöstlicher Richtung Schwachhausen gehört mit seinen vielen ausgesuchten inhabergeführten Läden seit langem zu meinen vom Massentourismus verschonten Lieblingsstraßen der Stadt. Einen der dortigen merkantilen Leuchttürme bildet der vor 30 Jahren gegründete Herrenausstatter KONTRAST · Männermode.


Seit zehn Jahren, so steht auf dessen Homepage geschrieben, wird das Geschäft von Holger Mertins betrieben und ist damit neben Herm. Stiesing in der Sögestraße das letzte Fachgeschäft für anspruchsvolle Herrenmode in Bremen, nachdem sich die Läden von Roland-Kleidung und l’uomo als Vertreter dieser klassischen Gilde bereits 2018, respektive 2020 und kürzlich auch Lysander im Viertel aus dem inner circle der Stadt zurückgezogen hatten.


So oft ich an dem Laden vorbeikomme, bleibe ich jedes Mal vor dessen Schaufenster stehen. Es ist einzigartig: zwischen der Auslage, die mit den ihr ausgestellten Hosen, Hemden, Pullovern, Jacken und Accessoires, allesamt von ausgesuchten Labels, nicht weiter überrascht, finden sich zwischen den feinen Stoffen immer auch jede Menge Fotografien, Bücher, Bilder und Hinweise auf kulturelle Ereignisse. Unter anderem ein Poster einer Lesung mit Michel Friedman, einem Artikel aus der Vogue mit zauberhaften Porträts und einem Interview mit der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer findet man dort. Es kommt einem eher wie eine Kunstausstellung, fast wie ein Szenenbild auf dem Theater vor. So passte es auch, dass ich neulich darin in einem schwarzen Rahmen ein Foto und einen Nachruf auf den im Januar verstorbenen Intendanten des Theaters Bremen Michael Börgerding entdeckte, den das kulturelle und gesellschaftliche Bremen so schmerzlich vermisst.


KONTRAST während der Weihnachtszeit · Foto: Jub Mönster
KONTRAST während der Weihnachtszeit · Foto: Jub Mönster

Feierstimmung


Am Tag vor Heiligabend kam ich gegen späten Mittag wieder durch den Fedelhören und sah vor und im Laden eine größere Menge Menschen stehen und sitzen. Draußen am Eingang zum Laden stand im Gespräch mit Kunden oder Freunden auch Holger Mertins. Wir begrüßten uns, denn wir kannten uns, wenn auch nicht näher, weil ich hin und wieder etwas bei ihm kaufe, und er lud mich ein, doch hineinzukommen, man feiere – ganz ungezwungen – schon mal gemeinsam Weihnachten. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und mischte mich unter die Gäste. Irgendwann wurde im hinteren Teil des Ladens ein Platz frei, ich ließ mich nieder, inmitten von einer großen Schar lebhafter Personen, und wurde sofort in eine lebendige Unterhaltung einbezogen. Wir wurden gut bewirtet, gute Musik lief im Hintergrund, nichts von „I’m dreaming of a white Christmas“, sondern sanfte, ganz unweihnachtliche Club Music. Zwischen uns drängten sich, ohne dass sie den Eindruck machten, dass sie sich belästigt fühlten, Kunden zu den Umkleidekabinen, um in ihnen die Objekte ihrer Begierden zu probieren.


Mein Aufenthalt in der anregten Runde zog sich hin, und ich fühlte mich angenehm aufgehoben zwischen all den bislang mir un- oder kaum bekannten Menschen. Als ich mich irgendwann verabschieden musste, zu Hause warteten auf mich die Vorbereitungen auf den Heiligabend, bedankte ich mich in der Runde und bei Holger für diesen ungewöhnlichen Nachmittag. Ich fragte ihn, ob ich ihn im neuen Jahr einmal besuchen dürfe, nicht als Kunde, sondern um zu erfahren, wie er zu diesem Laden gekommen sei und um ihn auch persönlich besser kennenzulernen.


Filmreif


So verabredeten wir uns Anfang Januar und schon die erste Geschichte, die Holger mir erzählte, nämlich wie er zu dem Laden gekommen sei, ist mehr als außer-gewöhnlich, sie könnte die Eingangssequenz zu einer unterhaltsamen britischen Filmkomödie à la Notting Hill bilden. Wir setzen uns – es war ein außergewöhnlich milder Sonnentag, und das mitten im Januar – vor das Schaufenster auf die zwei grauen Regiestühle mit dem Logo des Ladens an ihren Rückenlehnen, von denen immer zwei draußen auf dem Bürgersteig vor dem Schaufenster stehen. Zwischen ihnen der runde Caféhaus-Tisch, auf ihm immer eine Blumenvase mit einem auffällig großen Blumenstrauß, der – wie mir schon seit langem aufgefallen war – jede Woche gegen einen neuen ausgetauscht wird. So zeigen die Blumen immer an, dass der Laden geöffnet ist.

Die zwei Stühle vor dem Geschäft laden zum Verweilen ein, Tim und Denis Fischer · Foto: Volker Bergman
Die zwei Stühle vor dem Geschäft laden zum Verweilen ein, Tim und Denis Fischer · Foto: Volker Bergman

„Ich wohne in nächster Nähe zum Fedelhören, mit Blick auf das St.-Remberti-Stift. Da die Straße zu meinem unmittelbaren Kiez zählt, sind die Bar und das Restaurant von Giuseppina ‚Pina‘ und ihrem Mann Rodolfo, La Bottega Italiana und die Bar Vino Brabante, meine Stammlokale, sowieso die Treffpunkte der Nachbarn und der vielen Ladenbetreiber der Straße. Eines Tages im Herbst 2014 kam ich auf dem Weg dahin am Laden von KONTRAST vorbei, den ich nicht nur von außen kannte, sondern, weil ich mir dort hin und wieder etwas zum Anziehen gekauft hatte, auch von innen. So auch seinen Betreiber, Ulrich ‚Uli‘ Stelljes. Von seiner Schaufensterscheibe sprang mir ein handgeschriebener Aushang ins Auge, auf dem in gut lesbaren Lettern stand: ‚Schlussverkauf‘. Nur dieses eine Wort. Nichts weiter.


Ich ging sofort hinein zu Uli und fragte, was das Schild zu bedeuten habe. Er sagte, er wolle sich zurückziehen, zwanzig Jahre seien genug. Er schilderte seine Vorstellungen, was die Übergabe betraf, die in keiner Weise überzogen klangen. Ich ging ins Café von Pina, trank meinen Cappuccino, notierte und kalkulierte ein paar Zahlen. Nach einer Stunde ging ich zurück zu Uli, ich sagte: „Ich nehm‘ den Laden.“, Wir gaben uns die Hand, und die Sache war perfekt, für Uli und für mich. Es gab dazu nie etwas Schriftliches.“

Holger Mertins und seine Tochter und Kollegin im Laden Melissa Chelmis · Foto: Konstantin Zigmann
Holger Mertins und seine Tochter und Kollegin im Laden Melissa Chelmis · Foto: Konstantin Zigmann

„Aber hattest Du jemals im Kopf gehabt, dass Du mal mit Mode dein Leben verdienen wolltest?“ wunderte ich mich.


„Nein, aber der Reiz und die Vorteile der Selbstständigkeit begleiten mich schon mein ganzes berufliches Leben. Ich hatte tatsächlich keine blasse Ahnung, wie man Männer, die in Zukunft meinen Laden betreten würden, dazu bewegen könnte, mir die Kleider, die ich ihnen anbieten würde, auch abzukaufen. Aber natürlich wusste ich aus meinen vorherigen Tätigkeiten, wie man sich einer Kundschaft kompetent nähert und sie überzeugt, zudem wenn sie auf irgendeine Weise kulturaffin sind, wie es mir vorher mit Büchern, Filmen oder Konzerten gelang. Schließlich gehört Mode ja auch zur Kultur - im Alltag, im Beruf und im Leben generell. Und Mode sowieso – Mode ist etwas Wunderschönes!“


Erste Abenteuer


„So hattest Du also vorher nie mit dem Gedanken gespielt, einen Laden zu betreiben, in dem Du Hosen, Jacken, Hemden, Hüte und derlei mehr verkaufen würdest. Magst Du mir erzählen, was Du denn vorher so getrieben hast?“


„Gerne, das lässt sich in drei vorherigen Etappen auf-listen“, begann er eine Geschichte, die spannend zu werden versprach. Am Ende wurde sie eine mit vielen Sprüngen ins kalte Wasser: „Eigentlich immer, wenn ich etwas Neues anfing, kam das von einem Moment auf den anderen. Das fing schon an, dass mir damals, nachdem ich 1970 die Schule beendet hatte, plötzlich in den Sinn kam, Buchhändler zu werden. Meine Eltern, vor allem mein Vater, hatte andere Vorstellungen.“


„Und was?“


„Er hätte mich gerne als Polizist gesehen.“


„Was? Du als Polizist? Das kann ich mir nun gar nicht vorstellen“, mein Einwurf.


„Sag‘ das nicht! Ich habe einen extrem hohen Gerechtigkeitssinn!“ lachte Holger.


„Nun, dann hast Du aber vorgezogen, Dich zum Buchhändler ausbilden zu lassen.“


„Zum Glück sah mein Vater es auch alles nicht so streng. Das beweist die Tatsache, dass meine Eltern mich in der Waldorfschule einschulten, die ich sehr gerne besuchte“, schob Holger noch mit Eindrücklichkeit nach.

Bettina Wassmann in ihrer Buchhandlung Am Wall 164 · Foto: privat
Bettina Wassmann in ihrer Buchhandlung Am Wall 164 · Foto: privat

„Ja, ich bekam eine Lehrstelle in der Buchhandlung Storm, damals noch ein Riesenladen mit vier Etagen in der Obernstraße, aber gleichzeitig besuchte ich auch immer mit großer Neugier in meinen Mittagspausen die wunderbare Buchhandlung von Bettina Wassmann, die sie 1969 Am Wall 164 eröffnet hatte, mit ihrem viel spannenderen Sortiment von viel modernerer Literatur. Damals sehr zur Verstörung des soliden, allerdings auch recht konservativ betriebenen Bremer Buchhandels für den schon die Tatsache, dass sie ihr Geschäft einen Buchladen nannte, geradezu einer Blasphemie gleichzukommen schien.“


„Das musste doch sicher einen gewissen inhaltlichen Zwist für Dich bedeutet haben, die Arbeit in einer traditionellen Buchhandlung wie der ‚Stormschen‘ und dem radikaleren oder moderneren Angebot, das Du im Laden bei Bettina Wassmann fandest.“

Bettina Wassmann und Holger Mertins 1973 vor dem Buchladen Am Wall · Foto: Privat
Bettina Wassmann und Holger Mertins 1973 vor dem Buchladen Am Wall · Foto: Privat

„Na klar. So kam es auch, dass Bettina mich eines Tages fragte, ob ich sie nicht nach Köln begleiten wolle, um dort Kunstkataloge in der Buchhandlung Walther König einzukaufen und ich begeistert einwilligte. Bei Storm meldete ich mich dafür krank, das war nicht die beste Idee, aus der danach aber eine sehr gute wurde. Denn schon bei einem ersten Halt an der A1-Raststätte Dammer Berge parkte neben unserem Wagen, Bettinas Renault R4, eine große Limousine, aus dem kein geringerer ausstieg als mein Chef bei Storm, Jür-gen Nehen, der sich nach sehr kurzer Begrüßung nur mit dem kurzen Satz ‚Wir reden zuhause in meinem Büro darüber‘ von mir und Bettina verabschiedete.“


„Da war dann doch sicher – wieder zurück in Bremen - ein dicker Konflikt mit Herrn Nehen zu erwarten und zu lösen, oder?“


„Nehen war ein ausgesprochen liberaler Mensch. Er löste das Problem auf allen Ebenen auf sehr elegante Weise, so dass ich meine Lehre, da auch sie es mir freudig anbot, bei Bettina weitermachen konnte. Übrigens blieb ich in der langen über 50-jährigen Geschichte ihres Ladens der einzige Lehrling, wie damals die Auszubildenden noch tituliert wurden. Bis zum Frühjahr 1977 blieb ich auch nach dem Auslernen in ihrem Laden, davon längere Zeit in ihrer Unibuchhandlung, die ich alleinverantwortlich betreute.


Bettina wurde für mich eine einzigartige Lehrmeisterin, die mir von meinem ersten Tag an ihr volles Vertrauen schenkte und mir viele, ach, ich würde sagen, alle Frei-heiten gewährte. Es war der Anfang einer jahrzehnte-langen Freundschaft, bis zu ihrem Tod, nunmehr vor einem guten Jahr. Und darüber hinaus.


Nächste Wagnisse


„Und was passierte dann, als Du Dich von Bettina trenntest?“ wurde meine Neugier größer.


„Seit längerem hatte mich eine Idee beseelt, mich auch selbstständig zu machen. Da schien mir ein eigener Buchladen das naheliegendste. Bei aller Offenheit, die das ‚Wassmansche‘ Sortiment versprach, hatte sich die politische Szene in Bremen verändert. In Berlin, in Frankfurt, also vor allem in Großstädten mit Universitäten, schossen linke alternative Buchläden aus dem Boden. So schien mir der Moment gekommen, solch einen Laden auch in Bremen zu eröffnen. Ich fand schnell einen kleinen Laden von höchstens 40 Quadratmeter am Sielwall Nummer 7. Vorher war es der Sitz der Bremer Drogenhilfe, zwischen zwei Kneipen gelegen, links eine klassische Eckkneipe, der Pferdestall, heute das Eisen, rechts eine authentische Spelunke, Käpt’n Flint hieß sie. Danach sah auch ihr Publikum aus, hin und wieder hörte man von nebenan mal, dass Schüsse fielen. Die Polizei fuhr oft genug vor. Ich suchte nach Mitstreitern oder Mitstreiterinnen für das Projekt und fand sie schnell .“


„Und hattet Ihr den erhofften Erfolg?“ musste meine Frage doch wohl lauten.


„Es war für uns selbst eine große Überraschung, wie gut uns unser Start gelang“, beschrieb Holger die Situation.


Da ich den Buchladen Ostertor an einem anderen Standort kennenlernte und heute kenne, fragte ich Holger auch danach.

Der „Buchladen im Ostertor“ im Ostertor 1982 · Foto: Knud Falck
Der „Buchladen im Ostertor“ im Ostertor 1982 · Foto: Knud Falck

„Der Erfolg war uns auch weiterhin treu. Schon bald wurde der Laden am Sielwall viel zu klein. Ich erinnere mich an das Weihnachtsgeschäft 1978, da standen die Leute am Tag vor dem Heiligabend vom Laden bis an die Ecke der Sielwallkreuzung, um ihre Bücher zu bezahlen, also eine Schlange von knappen 50 Metern. Bald, Anfang der 80er Jahre, fanden wir die Räume im Fehrfeld 60, wo er nach wie vor gesund und munter mit seinen neuen Besitzerinnen existiert.“


Da Holger mir bei unserem näheren Kennenlernen im Dezember kurz erzählt hatte, dass er auch die Schauburg, das Kino im Steintor, mit betrieben hatte und ebenso einen Musikclub, das Moments, ebenfalls im Steintor zu verorten, wollte ich auch das noch wissen.


„Anfang der 80er Jahre eröffneten ein paar Leute, zu denen auch ich gehörte, als einen Kulturverein die ‚Schauburg‘, es nannte sich dann Kulturzentrum Schauburg. Der Saal war bereits 1929 gegründet worden, damals ein erfolgreiches und Bremens erstes Tonfilmkino für mehr als 800 Personen, mit einem großen Parkett und einem voluminösen Ersten Rang, der den jetzigen Kinosaal bildet. Es fungierte, als wir es zu bespielen begannen, als Nachspielkino, bis in die 60er Jahre, davor wurden dort Pornofilme gezeigt. Aus dem Verein wurde dann bald eine GbR und entwickelte sich zum Programmkino, ich wurde einer ihrer Geschäftsführer.“


„Aber Ihr habt nicht nur Filme dort gezeigt, oder? Ich erinnere mich an viele Konzerte und andere Veranstaltungen, die dort stattfanden“, hakte ich nach.


„Die Konzerte nahmen einen großen Platz ein, viele fanden in Kooperation mit Radio Bremen statt. Einer der dortigen Musikredakteure, Volker Steppat, der auch zu den Mitbegründern des Vereins gehört hatte, unterhielt Kontakte in alle Welt. So kamen auch international bekannte Musiker und Gruppen zu uns und traten bei uns auf.“


„Und dann später das Moments?“, fragte ich nach, denn das hatte Holger vorher auch schon erwähnt.


„Das war auch so eine Blitzentscheidung, auch da suchte man plötzlich Nachfolger, und ich griff zu. Ein hanseatisches kleines Pendant zum New Yorker Studio 54, davon träumte ich, mit gepflegter Disco, weiter mit vielen Konzerten, mit Lesungen und Events in allen Richtungen. Der Laden hatte auch eine sympathische alte Bremer Historie: lange war in ihm die legendäre Disco Why Not untergebracht. Auch diesem Abenteuer mit dem Moments war eine erfolgreiche Geschichte gegönnt, aber irgendwann sagte ich mich auch wieder von diesem Projekt los. Bei allem Vergnügen ist der Betrieb eines gastromischen Angebots sehr anstrengend. Da gönnte ich mir danach eine längere Auszeit bis, ja, bis dann die Geschichte mit KONTRAST ihren Beginn nahm.“


Und dann?


Gut, nachdem ich nun Holgers verschiedene berufliche Vorleben kannte, wollte ich – immer noch neugieriger ge-worden - aber jetzt wirklich wissen, wie es dann mit dem neuen Projekt im Fedelhören weitergegangen war.


„Nun, die technischen und geschäftlichen Absprachen mit Uli Steljes waren sehr schnell und ohne Schmerzen verabredet, auch mit dem Vermieter wurde ein sanfter Übergang vereinbart. Der Laden war dann ein halbes Jahr geschlossen. Ich brauchte und wollte – bis auf ganz wenige Einzelheiten - kaum etwas an seiner Einrichtung oder Ausstattung verändern. Es wurde lediglich alles neu gestrichen, alles in den für den Laden typischen Farben Schwarz und Weiß, die ja bekanntermaßen gar keine Farben sind, umso besser kommen in ihnen die Farben, Muster und die Gestaltung der Kleider zur Geltung.“


Zeitlosigkeit


Auf die innenarchitektonische Gestaltung seiner Geschäftsräume angesprochen, fuhr Holger fort: „Einen großen Vorteil bedeutete es, dass die Formgebung meiner Räume und des gesamten Corporate Design von KONTRAST · Männermode auch nach zwanzig Jahren noch ihren vollen Bestand hatten, ihn bis heute hat und zweifelsfrei auch in weiterer Zukunft haben wird. Es war von dem Bremer Atelier Küffner & Osterloh Grafikdesign kongenial mit seiner Nähe zum Stil der Ulmer Schule verantwortet worden.


Was mich nicht wunderte, dass mir diese neue Aufgabe auf Anhieb so viel Spaß bereitete und es mir immer weiter gelingt, mit Freunde, Engagement diesen Laden zu betreiben. Er zieht und lockt auch viele interessante Menschen an. Daneben ist es schön zu erleben, dass mich meine Tochter Melissa Chelmis mit viel Einfühlungsvermögen und mit viel Elan im Laden unterstützt und bei den Kunden beliebt ist.“


Man muss von sich reden machen


Es fällt sofort ins Auge, wenn man den Laden betritt und auch schon in der Vitrine im Ladeneingang, dass das Logo von KONTRAST auf manchen Postern aufscheint, sei es für eine Matinee mit dem Autor Michel Friedman, eine mit der Modeexpertin und Literaturwissenschafterin Barbara Vinken oder für Konzerte mit dem Chansonsänger Tim Fischer oder dem Sänger und Liedermacher Helmut Debus.


Ich frage nach: „Wie kommt es, dass im Zusammenhang mit solchen kulturellen Ereignissen der Name von KONTRAST auftaucht? Ich finde das überraschend.“


„Mich holt auf diese sehr angenehme Weise meine Vergangenheit als Konzert- und Veranstaltungsbetreiber ein, ohne dass ich damit eine Nebentätigkeit ausüben würde. Nein, es passiert einfach. Ich stoße auf etwas, wie ein Buch, das mich persönlich sehr be-troffen gemacht hat. So war es mit Michel Friedmans autobiografischem Buch ‚FREMD‘, das mich bei meiner Lektüre sofort in Bann gezogen hat. Ich hatte das Gefühl, das interessiert und beschäftigt mehr Leute als mich und mein Umfeld, also nahm ich Kontakt zu dem Autor und seinem Verlag auf und organisierte eine Lesung mit seinem damals gerade neu erschienenen Titel ‚Schlaraffenland abgebrannt‘‘. An einem Sonntagvormittag in einer Matinee in der Schauburg fand sie statt, drei Stunden dauerte sie am Ende, der Saal voll.


Oder ich hörte mit Begeisterung die regelmäßigen Modekolumnen ‚Stilfähig‘ von Barbara Vinken, die lange Zeit, seit längerem leider nicht mehr, bei Bremen Zwei liefen. Also luden wir sie ein, zweimal mittlerweile, einmal in Zusammenarbeit mit Ann Karlusch · Internationale Mode in Schwachhausen – Titel: ‚Der schöne Schein. Frauen & Männer & Mode‘ – und einmal im Foyer des Theater Bremen zum Thema ‚Erotik in der Oper‘.


Im vergangenen November konnten wir mit KONTRAST Männermode als Mitveranstalter ein Konzert mit dem Chansonnier Tim Fischer im Metropol Theater Bremen, mit seinem Programm ‚Glücklich‘ präsentieren und am 26. Oktober werden wir das wiederholen, dann mit seinem neuen Programm ‚Tim Fischer singt Hildegard Knef‘.


Auch mit Michel Friedman können wir – dieses Mal in Zusammenarbeit mit dem Theater Bremen – einen neuen Besuch in Bremen ankündigen. Er wird am 13. März 2025 um 19 Uhr im Theater am Goetheplatz mit seinem autobiografischen Titel FREMD zu einer szenischen Lesung zusammen mit zwei Schauspielerinnen aus dem Ensemble des Theaters auftreten. Der Vorverkauf für beide Abende läuft.“

Strenge Auswahl


Am Ende meines Besuches bei Holger interessiert mich noch, welche Kriterien er bei der Wahl seiner Labels, die er im Laden führt, anlegt, denn es fällt auf, dass es gar nicht so sehr viele sind, wie man schon auf seiner Website sehen kann. Auch dazu hat Holger eine klare Vorstellung.


„Als ich den Laden vor zehn Jahren von Uli Steljes übernahm, habe ich einige seiner Labels übernommen, einige aber auch schon ausgesondert. Ich bin da immer sehr meinem persönlichen Ge-schmack gefolgt. Ich vertraue schon mein ganzes Leben auf meine Spontanität, selten mit misslichem Ausgang. Auf der anderen Seite habe ich mir sehr genau Ulis Erfahrungen und seine Kriterien angehört, denn immerhin hatte er 20 Jahre mit großem und stetem Erfolg diesen Laden betrieben.


So hat er mich auch bei meiner ersten Einkaufstour zu den Herstellern begleitet, was mir als ‚Greenhorn‘ sehr geholfen hat. So führe ich nach wie vor einige von jenen Labels der ersten Stunde, aber es sind auch neue dazugekommen. Meine Kriterien sind sehr klar. Erstens: die Stücke müssen mir persönlich gefallen, entweder dass ich sie mir für meine Kundschaft gut vorstellen kann, aber auch so manche, die ich selbst gerne tragen würde. Zweitens: ich lege sehr viel Wert auf gehobene und gleichbleibende Qualität der Herstellung. Dass dabei auch die bestmögliche Umweltverträglicheit garantiert sein muss, ist heute eigentlich eine Selbstver-ständlichkeit, aber ich erwähne es dennoch.“


Holger holt noch weiter aus, es zeigt, wie viel Gedanken er sich um sein Sortiment, aber auch zu seiner Kundschaft macht. Seine klare, bedachtsame und routinierte Sicht und sein unverfänglicher Instinkt haben mich längst eingefangen. Ein erfolgreicher Quereinsteiger, damit vielleicht manches Mal sind solche ‚Da-zugestoßenen‘ die Unternehmer mit den glücklichsten Händen.


„Mein Sortiment ist nie auf Mainstream ausgerichtet“, fährt Holger fort, „es darf im allerbesten Sinne als klassisch bezeichnet werden, ohne dabei konventionell zu sein. Durchaus gewagt dürfen die Kleidungsstücke sein, im Schnitt, in der Farbgebung, in den Materialien, aber immer mit ‚gutem Geschmack‘, wie man sagt, ja, der ist wichtig. Geschmacklosigkeiten warten an zu vielen Ecken auf uns. So ordere ich auch oft genug bei meinen halbjährlichen Einkaufstouren Teile, bei denen ich ganz gezielt an gewisse Kunden denke. Das ist ein weiterer Teil dessen, warum ich meinen Beruf liebe: Ich kenne meine Kundschaft, die männliche, aber auch die weibliche, die ebenso einen wichtigen Teil meiner Klientel ausmacht. Aus nicht wenigen Kunden wurden mit den Jahren vertraute Menschen, manche wurden sogar zu Freunden. Du hast es ja erlebt bei unserem Kennenlernen bei unserem weihnachtlichen Stelldich-ein.“


Für die meisten seiner Labels hat KONTRAST Standortexklusivität. Er sei immer wieder froh, wie gleichbleibend ausgeglichen sicher seine Hersteller ihre Ware produzierten, unterstreicht Holger, aber sie eben auch immer mit vielen neuen Ideen Saison auf Saison auf-warteten. Das mache sehr viel Spaß und sei die Grundlage einer soliden Existenz eines Ladens, wie er ihn betreibe und welchen Anspruch er an ihn stelle.

„Du legst also durchaus kritische Attribute an“, frage ich nach, „ist es schon mal vorgekommen, dass Du Dich von einzelnen Labels getrennt hast?“


Oh ja, das habe er durchaus schon. Denn sobald er bemerke, dass Schwächen in den Produktionen auftauchten, sei er in der Lage und entschieden, sich dann wieder von Herstellern zu trennen. Er fährt aber mit gewissem Stolz und Überzeugung fort: „Die Namen meiner Labels sprechen für sich und für stete Qualität, ich nenne nur ein paar von ihnen: hannes roether, Phil Petter, Stefan Brandt, seldom, TRANSIT, Blue de Gênes, Delikatessen. Sie alle genießen bei modeaffinen Menschen hohe Anerkennung.“

Mal stilvoll, mal ungewöhnlich, nur kein Mainstream, Foto: Konstantin Zigmann
Mal stilvoll, mal ungewöhnlich, nur kein Mainstream, Foto: Konstantin Zigmann

Nachdem ich Holger und seine Geschichte – eben eine vom Buch- zum Tuchhändler – aus einer solch sympathischen Nähe kennenlernen konnte, eben auch den persönlichen Hintergrund seiner Rolle und der seines Ladens, seine ungewöhnliche Philosophie als Unternehmer, der er natürlich auch im ganz traditionellen Sinne ist und sein muss, werde ich nun noch umso lieber zu ihm in den Laden kommen und mir hin und wieder etwas aus dem attraktiven Sortiment aussuchen. Und wenn ich einmal nichts kaufen möchte oder will, werde ich mich mit nun umso größerer Neugier weiter an seiner abwechslungsreichen inhaltsvollen Gestaltung seiner Schaufenster erfreuen. Der Laden ist ein Juwel in dieser so speziellen Straße Bremens.

 

 

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