Besuche des Bremer Riensberger Friedhof mit meinen Eltern und bisweilen auch mit meinen Geschwistern reichen in meine Kinderjahre zurück und bilden so - zumindest auf dieser Ebene - meine ersten Begegnung mit dem Phänomen des Todes. Wir besuchten im Sommer oft Freunde unserer Familie, die eine kleine Hütte auf einer Parzelle in der Wümmeniederung im Bremer Blockland besaßen. An gleicher Stelle ist heute ein Feld, es gibt das schöne Stück Kleingarten nicht mehr, es lag ganz am Ende des Kuhgrabenwegs, auf der linken Seite, kurz vor der Schleuse und dem ‚Landhaus Kuhsiel‘. Dorthin fuhren wir mit den Fahrrädern aus Huckelriede über die Sielwallfähre oder die Wilhelm-Kaisen-Brücke, die seinerzeit noch schlicht ‚Große Weserbrücke‘ genannt wurde.
Die Fahrt bedeutete immerhin gute 12 km für jeden Weg, damals natürlich ohne Gangschaltungen und ich in den frühen Jahren noch vorne im an der Lenkerstange befestigten metallenen Kindersattel. Am Bürgerpark entlang und an dessen Ende bogen wir dabei manchmal – noch vor dem Beginn des Blocklandes - rechts ab auf den Riensberger Friedhof, vorbei am damals noch als Krematorium dienende (bis 1988), heute das Kolumbarium, als Bauwerk hatte das schon etwas bedrohliches. Auf dem 'Riensberg', so sagt man in Bremen einfachheitshalber, hatten wir zwei Ziele: das väterliche und das mütterliche Familiengrab meines Vaters. Das erste existiert schon einige Jahre nicht mehr, während das andere nach wie vor im Feld „H“ zu finden ist.
Wo sind denn all die Toten?
Der Ort hatte für mich - sowohl als Kind wie auch bis zum heutigen Tag - nie etwas Bedrückendes, oder damals womöglich Angsteinflößendes. Doch ich muss wohl irgendwann irgendjemanden - noch klein - gefragt haben, wo denn die vielen Toten seien, von denen ich wohl immer schon - so will mir scheinen - begriffen hatte, dass sie da unter den dunklen Steinen, in den monumentalen Mausoleen, vor den teilweise sehr großen Kreuzen unter der Erde in Särgen lagen. Durchaus riesengroße Mahnmäler einige, erst recht aus der Perspektive eines kleinen Jungen.
Nun, und da muss mir jemand eingeredet haben, dass sie nachts aus den Gräbern kämen, wenn der Friedhof verschlossen sei und sich miteinander träfen. Meinen Eltern traue ich nicht zu, mir solche Schauermärchen ins Ohr gesetzt zu haben. Ich vermute, es war eher einer der älteren Brüder? Oder doch der Vater, er neigte zu mancher spinnerten Geschichte. Oder hatte ich es irgendwo gelesen, im Kino gesehen, im Radio gehört? Fernsehen kannte ich noch nicht. Doch ich muss gestehen, mir gefiel dieses Bild der tanzenden Geister des Nachts im besten Schwachhauser Viertel...
Und noch heute gefällt mir durchaus die Vorstellung, ohne auch nur noch im Ansatz daran zu glauben, dass da tatsächlich mein Vater zusammen mit meiner Mutter ganz in der Nähe an deren Grab ihre gemeinsame Freundin Annemarie abholten, um miteinander - sagen wir über alte Zeiten - zu reden. Die guten allemal. Vielleicht auch hin und wieder über die schlechten. Denn gerade diese schweren, gemeinsam erlebten und mittlerweile (oder auch in einigen Teilen sicher nicht) bewältigten Jahren bildeten den Hintergrund wohl ihrer tiefen und offenherzigen Freundschaften.
Verwandte, Freunde, Bekannte - Tot oder auch lebendig
Manche von diesen liegen oder lagen in den Gräbern dieses altehrwürdigen Totenparks, deren Namen für mich Sinn haben. Natürlich die Eltern, die Großeltern und deren Eltern. Jung, viel zu früh verstorbene Freunde und Freundinnen. Oder Namen von Personen, die man nicht persönlich kannte, aber die man schätzte, verehrte, betrauerte oder manche von denen man Bücher gelesen hat, die einem wichtig waren und Spuren hinterließen.
An eine Frau wie Johanna Rose 'Anni' Leuwer, die Inhaberin der Buch- und Kunstbuchhandlung Franz Leuwer wird mit einer Steinplatte erinnert, die hier nicht begraben werden konnte, weil sie - nachdem ihr als Jüdin die Bremer Nationalsozialisten bereits 1933 ihr Geschäft weggenommen, ihn 'arisiert' hatten - im Juli 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert worden war und dort im Februar des folgenden Jahres umkam. >>> Link.
Oder einen Mann wie den Bremer Schriftsteller und Verlagslektor Friedo Lampe, auch an diesen kann hier nur mit einer Gravur im Grabstein seiner Familie erinnert werden, denn auch er starb anderswo. Lampe wurde von Rotarmisten in Kleinmachnow bei Berlin erschossen, nur sechs Tage vor der Kapitulation der Wehrmacht. Dort ist er auch begraben. >>> Link
Oder der Regisseur Eberhard Fechner, der Sänger und Komponist Harry Frommermann von den 'Comedian Harmonists', der Schauspieler Ignaz Kirchner, Bürgermeister Wilhelm Kaisen und seine Frau Helene, die hier begraben sind, der in Delmenhorst geborene Maler Arthur Fitger, der Wasserbauingenieur Ludwig Franzius, die im Ostertorviertel geborene Frauenrechtlerin Ottilie Hoffmann und viele andere mehr. Und natürlich findet man eine reichliche Zahl an Grabstellen - manche pompös bis heroisch dekoriert, andere wiederum hanseatisch dezent gestaltet - der Bremer Dynastien von Kaufleuten und Bürgerfamilien.
Man kann aber auch sehr alte Steine finden, die auf mittlerweile aufgegebenen und ausgehobenen Gräbern stehen. Manche von diesen haben sich noch heute lebende und durchaus nach wie vor fleißig und fröhlich schaffende Zeitgenossen ausgesucht, gewissermaßen als Paten, aber ebenso, um dorthin selbst einmal - in hoffentlich sehr weiter Ferne! - zu Grabe getragen zu werden. So kann man auf eine Stele stoßen, unter der einmal der bekannte Maler und Zeichner Jub Mönster (*1949 in Oldenburg i.O.) seine Ruhe finden wird können. Da hat sich tatsächlich niemand einen schlechten Scherz erlaubt, sondern der Künstler sagt selbst zu seiner posthum zu beziehenden Immobilie:
»Es geht hierbei weniger um die Patenschaft als vielmehr um die sanfte, vorausschauende Regelung bei Eintritt des Todes - ein vielfach ungemütliches Thema. Deshalb sollte man es bei guter Gesundheit und dementsprechend humorvoller Laune angehen und regeln - ich kann allen versichern, dass es nach Beendigung dieser Formalien kaum eine größere Erleichterung gibt und zwar für alle Teile der Familie.«
Aber lesen Sie hier die ganze Geschichte: >>> Link. Deren Autor lernen Sie jetzt und hier in der Folge kennen.
Entdeckungshelfer Michael Weisser
Um diesen Riensberger Friedhof von Grund auf entdecken zu können, gibt es wohl kaum einen besseren Begleiter als den zutiefst kundigen, neugierig forschenden und umfangreich belesenen und gebildeten Medienkünstler, Kunsthistoriker und Autor Michael Mike Weisser: er hat pünktlich zur Vorbereitung auf das anstehenden 150-jährige Jubiläum des Parks im kommenden Jahr dessen auf 175 Seiten opulent bebilderte Geschichte geschrieben und im Oldenburger Isensee Verlag publiziert. Der Titel: »Die Liebe höret nimmer auf · Der Riensberger Friedhof in Bremen-Schwachhausen 150 Jahre«.
Damit setzt Weisser seine profunden Forschungen und Publikationen zur Bremer Geschichte, Kultur und Politik fort. Bereits 2021 veröffentlichte er einen noch viel umfangreicheren Essay über den Friedhof: Der Riensberger Friedhof in Bremen 1811-2021 (>>> Link). Danach einen über die Bremer Kaufmannsfamilie Leisewitz und einen weiteren über das Leben und Wirken des Bremer Baumeister und Architekten Lüder Rutenberg (alle ebenfalls im Isensee Verlag erschienen).
Der Riensberger Friedhof 150 Jahre I: Ein Buch als Begleiter
150 Jahre - so lange wird es am 1. Mai des kommenden Jahres her sein, dass dieser Park der Öffentlichkeit übergeben wurde. Er ist damit nach dem Jüdischen Friedhof in Hastedt (1796), dem im Buntentor (1822) und dem protestantischen Hastedter Friedhof (1835) der viertälteste in Bremen noch existierende, zusammen mit dem Waller Friedhof, der am gleichen 1. Mai 1875 eröffnet wurde.
Das Buch ist eine in Weissers bekannt gründlicher, gut lesbarer Weise ge- und beschriebene Historie und Studie dieses 27 Hektar großen Parks im Zentrum des Stadtteils Schwachhausen. Es schildert auch die Geschichten von drei ausgesuchten Betrieben, die seit langen Jahren unmittelbar mit dem Friedhof verbunden sind: das im Jahr 1884 gegründete Bestattungsinstitut Tielitz, die seit 1924 arbeitende Friedhofsgärtnerei Otte und das seit fast 70 Jahren existierende Atelier des Bildhauermeisters Frank Graupner.
Ebenso wenig fehlen Seiten mit einer ausführlichen Beschreibung der Entwicklung des ursprünglichen Bauerndorfes Schwaghausen vor den Toren der Stadt zu einem ihrer einst vornehmsten Stadtteile, nun Schwachhausen, aber auch heute noch - nach Horn, Borgfeld und Oberneuland - der Bezirk der Stadt mit dem vierthöchsten Durchschnittseinkommen.
Unter dem Titel »Der Friedhof als Biotop« widmet Weisser auch der üppigen Flora und Fauna des Parks ein Kapitel. Auf weiteren 25 Seiten beschreibt er die lange Chronologie des Riensberger Friedhofs.
Neben Karten, historischen Abbildern und Dokumenten illustrieren das Buch viele ganzseitige Farbphotographien in guter Druckqualität auf sorgfältig ausgesuchtem Papier, alle vom Autor selbst aufgenommen.
In einem leider nur im Stadtteilkurier Mitte des Weser-Kurier und nicht in der Hauptausgabe erscheinenden Interviews sagt Weisser über die von ihm nunmehr schon zweite erschienene Arbeit über den Friedhof:
»Das neue Buch soll jene Kräfte sichtbar zu machen, die ihn täglich beleben. Mir geht es dabei um den Friedhof als Ort von Natur und Kultur und um die Geschichte des alten Dorfes Schwachhausen, in das er eingebettet ist. Hinzu kommen neue Informationen zu Bremer Familien und zu Gräbern von Freimaurern und, das ist mir besonders wichtig, Aussagen von Persönlichkeiten aus Politik und Kultur zur großen Bedeutung dieses Friedhofs.«
Lesen Sie hier das ganze Interview mit Michael Mike Weisser und dem Weser Kurier vom 13. Juni 2024:
Meine persönliche Empfehlung:
Nehmen Sie sich einen halben Tag Zeit und nutzen sie ihn zu einer Exkursion zum Riensberger Friedhof. In der Umhängetasche das Buch von Michael Weisser und eine Proviantdose, gutes Bremer Trinkwasser (lt. BUND hat es eine hervorragende Qualität) kommt allerorten aus den Versorgungswasserhähnen an den Wegen des Parks. Auch wird keiner die Nase rümpfen, wenn Sie sich auf einer der vielen Ruhebänke niederlassen und sich dort eine gute Flasche Wein öffnen.
Drucken Sie sich vorher den Lageplan des Friedhofs aus (s.u.) und finden auf ihm die vielen sehenswerten Grabmale und -Steine wieder, die Weisser beschreibt und fotografiert hat. Er erwähnt in den Legenden aller seiner Fotos die exakten Koordinaten der Gräber. So machen Sie eine Zeitreise durch zwei Jahrhunderte Bremer und Deutscher Geschichte. Einen besseren Reiseleiter an diesem Ort als Michel Weisser kann ich mir kaum vorstellen.
Lassen Sie sich Zeit und genießen das Ambiente und die Atmosphäre einer der spektakulärsten und ältesten Bremer Parkanlagen.
Der Riensberger Friedhof 150 Jahre II: Der Autor ergreift Initiative
In dem erwähnten WK-Interview antwortet Weisser auf die Frage »Der Riensberger Friedhof wurde am 1. Mai 1875 eingeweiht. Was wünschen Sie sich für das 150-jährige Bestehen im kommenden Jahr?» wie folgt:
»Mit dem Buch möchte ich vorab Informationen und Anregungen bereitstellen, um das wichtige Jubiläum im nächsten Jahr angemessen zu begehen. Der Riensberger Friedhof verdient eine öffentliche Hommage, denn er ist ein substanzielles kulturelles Erbe, das sorgfältig erhalten, geschützt und vermittelt werden muss.«
Der Autor hieße und wäre nicht jener Michael Mike Weisser, als den man ihn in Bremen und darüber hinaus kennt, würde er die Dinge auf sich beruhen lassen. An der hanseatischen Kulturszene und den öffentlichen Stellen gehen solche Jubiläen manches Mal und allzu leicht an solchen Ereignissen vorbei und verpassen die Gelegenheiten, sie angemessen zu feiern. Um dem entgegenzuwirken, hat Weisser auf der offiziellen Ebene einen Bürgerantrag an den Stadtteilbeirat Schwachhausen gerichtet, dessen nächste Sitzung auf den 22. August 2024 um 19:30 im Focke Museum terminiert ist, damit Seite an Seite und in Sichtweite des Friedhofs…
Weblinks:
Homepage des Autors: https://www.mikeweisser.de/
Homepage des Verlages: https://www.isensee.de/?s=weisser&search_id=1
Wenn Du willst, kannst Du mir gerne Deinen Kommentar schicken, und zwar an diese Mail-Adresse: blog.guenny@mercadodelibros.info
Comments