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Meeting Point: St. Martini

  • Autorenbild: Guenter G. Rodewald
    Guenter G. Rodewald
  • vor 6 Tagen
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: vor 5 Tagen

9. April 2025 - Der seit dem vergangenen Herbst in der St. Martini Kirche von Bremen-Lesum tätige Kantor und Organist Matthew Glandorf (*1972, Philadelphia, Pennsylvania, USA) versteht es immer wieder, seine stetig anwachsende Fangemeinde der Gemeinde, aber auch in den umliegenden Stadtteilen und in der Stadt Bremen, mit neuen Formaten zu überraschen. Was ihn am meisten zu reizen und zu locken scheint, sind seine musikalischen Collagen, die gerne immer wieder Musik aus dem anglo-amerikanischen Raum in melodische Verbindung mit Werken anderer europäischer Komponisten verschmelzen.


Puccini / Bruckner / Standorf


In diesem Sinne hatte er schon sein Konzert dreier Totenmessen im vergangenen November gestaltet, als er das Requiem von Giacomo Puccini (1858 – 1924) zusammen mit den Totenmessen von dessen Kollegen aus Österreich Anton Bruckner (1824-1096) und aus Großbritannien Charles Villiers Stanford (1854 - 1924) an einem Abend zusammen aufführte (>>> Link).


White / Coleridge-Taylor / Conzoga / Price


Oder vor zwei Monaten, als er zu einem Konzert einlud, das unter dem Motto »Romantik of Colour« stand und in dem in einer beeindruckenden Aufführung jeweils zwei Komponistinnen und Komponisten vorgestellt wurden, die lange unbekannt waren, aber die es verdienen, dass sie wie ihre Werke wiederbelebt oder erstmalig aus der Vergessenheit und Versenkung geholt werden. V


Spielen tat das Namu Ensemble, ein 2020 gegründetes Nonett, die Sopranistin Julie Comparini moderierte spannend den Abend und begleitete ihn mit ihrer ausdrucksvollen Stimme. Ausgesucht für das Repertoire hatten Glendorf und das Ensemble mit Clarence Cameron White (1880 Clarksville/Tennessee - 1960 New York City), Samuel Coleridge-Taylor (1875 London – 1912 ebenda), Chiquinha Gonzaga (1847 Rio de Janeiro – 1953 ebenda) und Florence Price (1847 Little Rock, Arkansas – 1935 Chicago) Musikerinnen und Musiker, die aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit oder ihrer Hautfarbe zu ihren Lebenszeiten kaum oder gar keinen Erfolg genießen konnten.


Es war ein ausgesprochen lohnender Konzertbesuch, auch gerade durch die Texte von Julie Comparini, die sehr viel an Information boten. Die Auftritte des Namu Ensembles werde ich weiterverfolgen, denn neben ihrer hohen musikalischen Qualität machen sie eine wichtige Arbeit und werden ihrem Anspruch beispielhaft gerecht, den sie explizit auf ihrer Homepage so formulieren:


»Unser Ziel ist es, unterrepräsentierten Komponist*innen eine Bühne zu geben, die aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit oder ihrer Herkunft lange nicht die Aufmerksamkeit bekommen haben, die sie eigentlich verdienen. Die Werke werden durch eine musikwissenschaftliche Moderation begleitet, um eine möglichst faire und akkurate Darstellung der Komponist*innen zu gewährleisten.«


Über den gelungenen und vom Publikum mit reichlich Applaus bedachten Abend resümierte damals DIE NORDDEUTSCHE am 18. Februar 2025, dem ich vollkommen und gerne zustimme:


»Es war ein weiterer Schritt auf dem Weg, aus St. Martini an der Hindenburgstraße eine Kulturkirche zu machen: Kantor Matthew Glandorf hatte sozusagen die Welt nach Lesum geholt.«


Bach / Tippett / Bonhoeffer


Und so ging es nun kürzlich weiter, genauer gesagt am Nachmittag des letzten Märzsonntags (schon den Konzertbeginn auf 15 Uhr zu legen eine wohltuende Nuance). Dieses Mal lautete der Slogan: »Bach und Spirituals im Dialog«. Dazu hatte Glandorf ein attraktives Kollegium zusammengestellt: ein stimmenstarkes vierköpfiges Vokalensemble, ein Nonett aus professionell und eindrucksvoll aufspielenden Instrumentalsolisten und der Capela St. Martini, die sich schon so oft in ihrer Gemeinde der Lesumer Kirche und anderswo als Chor hoch ausgezeichnet hat.


Gegeben wurde die Bach-Kantate »Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir« (BWV 131). Dabei handelt sich um eine der ältesten erhaltenen Kantaten Bachs, die er in noch recht jungen Jahren - im Alter von 22 oder 23 Jahren und seinerzeit als Organist an der Divi-Blasii-Kirche der Freien Reichsstadt Mühlhausen in Thüringen tätig - komponiert hatte. 


Jedoch hatte Glandorf den fünf Teilen der Kantate drei Gebete von Dietrich Bonhoeffer, der genau heute von 80 Jahren im KZ Flossenbürg von den Nazis hingerichtet wurde, voran- bzw. hintangestellt (Morgengebet, Gebete in besonderer Not, Abendgebet), die der Bass Alexander Schumann rezitierte. Und als musikalisches Entreé sangen die Solisten und der Chor den Psalm 130  »Out of the deep« von Thomas Morley (ca. 1557-1602).


Herschel Grynszpan Foto © Bundesarchiv
Herschel Grynszpan Foto © Bundesarchiv

Zwischen die Bach-Sätze montierte Glandorf jeweils fünf bekannte Spirituals, die der Londoner Komponist Michael Tippett (1905-2998) in seinem Arrangement in sein Oratorium »Child of our Time« integriert hat. Tippett hat sein dreiteiliges Oratorium für Chor, Orchester und Solostimmen 1939 – 1941 komponiert. Der Titel bezieht sich auf die Person des 17-jährigen jüdischen Jungen Herschel Grynszpan, der im November 1938 in Paris ein Attentat auf den deutschen Botschaftsrat Ernst vom Rath verübt hatte, das die Nazis zum Anlass nahmen für die Pogrome gegen die jüdische deutsche Bevölkerung, der Reichspogromnacht.


Nachdem ich inzwischen mehr über dieses Werk von Tippett erfahren habe (siehe hier: Link), seinen Hintergrund, und ich es mir als Ganzes anhören konnte, wünsche ich mir, dass Glandorf es demnächst einmal komplett aufführen würde.


Ein schelmischer Einfall?


Kein Schelm, der dabei denkt, dass Glandorf das Konzert sicher mit Hintergedanken auf den 30. März gelegt hat, wurde Johann Sebastian Bach doch um diesen Tag herum vor 340 Jahren geboren (am 21.3. nach dem Julianischen, nach dem Gregorianischen Kalender am 31.3.1685). Ich denke, dass der junge Bach sich gut mit dem 220 Jahren jüngeren britischen Komponisten verstanden hätte und Glandorfs Einfall, die beiden in einem Konzert unter das Dach der St. Martini Kirche zu Lesum auftreten zu lassen, gutgeheißen hätte. Und wenn am Ende nicht, ich fand die Idee in jedem Fall sehr anregend und freue mich schon auf die nächste musikalische Verkuppelung an diesem Ort. Und ein weiterer numerischer Zahlentrick ist dem Kantor im Programm versteckt: dem Psalm 130 folgte die Kantate BWC 131. Das kann doch kein Zufall sein.


 

Das Programm & Ensemble von »Bach und Spirituals im Dialog« zum Download:

 

Weblinks:

  • Das Namu Ensemble: Link

  • Homepage | Julie Camparini: Link

  • J.S. Bach Kantate BWV 131 »Aus der Tiefe...«: Link

  • Michael Tippett »Child of our Time« (ab 27:42 und 49:33): Link

  • Thomas Morley »Out of the deep«: Link

  • Internetpräsenz Dietrich Bonhoeffer: Link

 

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