28. August 2019 - In diesem Sommer haben wir einen sehr erholsamen Urlaub im Herzen des Wendlands verlebt, in einem Dorf mit dem kuriosen Namen Kröte, der aber nicht auf die gleichnamige Amphibie zurückzuführen ist, sondern Kröte ist das wendische Wort für den Maulwurf [1]. Wobei uns während der Zeit unseres Aufenthalts unerschlossen blieb, warum dieser Bezug existiert. Gesehen haben wir nur Ziegen, Schafe, Kühe, Gänse, Hühner, Hunde, viele Vögel und sogar eine Waschbärenfamilie, die unseren Garten durchschlich.
Der Vorzug des Wendlands ist zweifelsohne, dass es – selbst jetzt im Hochsommer – verschont bleibt von spektakulären Touristenströmen, hin und wieder begegnen einem Radwanderer, einzeln und in Gruppen, manche Räder abenteuerlich bepackt mit umfänglichen Packtaschen, seitlichen, am und vor dem Lenker, auf den Gepäckträgern, andere haben auch Lastenhänger hintendran angekoppelt.
Etwas anderes fällt auch ins Auge: da das Wendland bis zum Zeitpunkt des Mauerfalls 1989 mitten im sogenannten Zonenrandgebiet lag, befand es sich damit im ökonomischen und strukturellen Hintertreffen, so dass die Gegend sichtbar und in gutem Umfang von der Berserkerei verschont geblieben ist, die die Bausubstanzen anderer und besser bemittelter Dörfer und Landstriche im Norden teilweise so schwer mit Plastikklinkern und anderen erbärmlichen Bauelementen verunstaltet haben.
Gorleben lebt weiter
War das doch einer der Gründe, warum sich für listig gehaltene Politiker in den 70er Jahren das Wendland für die klammheimliche Errichtung einer atomaren Wiederaufbereitungsanlage und dem bei Gorleben liegenden, stillgelegten Salzbergwerk für eine Endlagerung von Atommüll ausgesucht hatten, weil sie sich von der dortigen, eher überschaubaren Bevölkerung keinen größeren Widerstand erwarteten.
Wie bekannt ist, haben sie sich in dieser Wahl gehörig vergriffen, so stand natürlich auch ein Besuch der Restspuren des Besetzerdorfs der Republik Wendland auf unserem Besuchsplan, und hat dabei eigene Erinnerungen wieder wachgerufen. Die Insignien des Widerstandes sind auch nach wie vor überall im Land zu sehen und erfreut, zeigt es doch, dass der Widerstand vor Ort (und sicher auch weiterhin anderswo) ungebrochen ist.
Im an das im Osten ans Wendland angrenzende Gebiet, also da wo es vor der Wende das sogenannte seit 1954 bestehende entlang der innerdeutschen Grenze verlaufende "Sperrgebiet" gab und in dem um die 200.000 Menschen lebten, sieht es noch einmal anders aus: in den Dörfern und Kleinstädten gibt es viele Leerstände, längst nicht alle Häuser sind restauriert, womöglich wegen ungeklärter Erbsituationen oder weil schlichtweg das Geld fehlt. In einer Stadt wie Wittenberge im Brandenburg gab es mal die Nähmaschinenfabrik Singer, in der DDR produzierten sie in den gleichen Werken die Veritas-Maschinen, die dann schon 1992 von der Treuhandanstalt liquidiert wurde. Gleichsam ein Todesstoß für die Ökonomie der Stadt, denn ein Großteil ihrer Bewohner lebte direkt oder indirekt von diesem Unternehmen, an dessen Stelle bis heute nichts Entsprechendes entstanden ist, wie wohl an vielen Orten der ehemaligen DDR.
Ein schon etwas anderes Bild bietet die Hansestadt Salzwedel. Eine fast bilderbuchartige Innenstadt mit viel erhaltener oder restaurierter Fachwerkarchitektur, vielen Geschäften, Gaststätten, dem attraktiven Kunsthaus Salzwedel, untergebracht im ehemaligen Lyzeum, im gleichen Gebäude ist das auch höherpreisige Restaurant „Heimart“ (sic!) untergebracht, das wir ebenfalls aufsuchten und für gut und weiter empfehlenswert erachten können.
Daneben gibt es das Jenny-Marx-Haus, dem Geburtshaus von Jenny Marx, geborene von Westfalen (1814-1881), der Ehefrau von Karl Marx. In dem von der örtlichen Musikschule genutzten Stadtpalais, gibt es eine kleine, überschaubare Dauerausstellung, in Erinnerung an die Gattin des Philosophen.
Die Entdeckung eines kleinen Bücherparadieses
Aber viel mehr hat mich eine Buchhandlung in ihren Bann gezogen, die seit dem Jahre 1840 existiert, aber noch viel mehr ihre Inhaberin, die dort tagtäglich von morgens um 9:00 bis abends 18:00, von Montag bis zum Samstag steht, am Tage nur unterbrochen von ihrer Mittagszeit, die sie zum Mittagessen in einem nahe gelegenen Gasthof verbringt und zur siesta, die sie sich in ihrer Wohnung im Stockwerk über ihrer Buchhandlung gönnt, die Buchhändlerin Helga Weyhe. Das hört sich alles nach einem ganz normalen Arbeitsalltag einer Buchhändlerin an, aber eine gewisse Nuance verändert den Blick, denn Frau Weyhe ist mittlerweile gute 96 Jahre alt, sie ist damit die älteste aktive Buchhändlerin Deutschlands.
Seit 1945 steht sie da der Buchhandlung im gleichen Haus und in der gleichen Straße vor, die ihr Großvater Heinrich Weyhe 1871 übernommen hatte und in die dann in den 1920er Jahren auch ihr Vater Walter Weyhe einstieg, der 1975 starb. Seitdem führt eben Helga Weyhe den kleinen Laden und empfängt ihre Kunden hinter ihrem Kassentresen.
Es ist eindeutig: viel wurde an der Innenausstattung in den vergangenen Jahrzehnten nicht verändert, einige der Regale sollen um die 150 Jahre alt sein. So fühlt man sich ein wenig in eine der Buchhandlungen vergangener Zeiten versetzt, wenn auch im Sortiment nicht viele der aktuellen Neuerscheinungen fehlen. Andererseits eine Auswahl, die die ganz persönlichen intellektuellen, politischen und gesellschaftlichen Kriterien von Helga Weyhe verrät, so gar nichts Verstaubtes, ganz im Gegenteil, eine offen dargebrachte Haltung, die sie und ihr Vater bereits unter den schwierigen bis gefährlichen Bedingungen in den Zeiten des Nationalsozialismus, ebenso wie unter den Reglementierungen durch das DDR-System immer versucht haben zu bewahren.
Von manchen dieser Situationen und wie man ihnen widerstand, erzählt Helga Weyhe in dem langen Interview, das sie mit Martina Trauschke und Ingrid A. Schmidt geführt hat und das 2017 unter dem Titel „Im Gegenteil, ich bin frei“ [2] erschien.
Aber auch davon, wie sie in den früheren Zeiten der DDR, in denen es noch möglich war, mehrere Reisen nach Italien, sogar in die USA machen konnte. Dort in New York hatte ihr Onkel Erhard Weyhe nach Aufenthalten im europäischen Ausland, zuletzt in London, 1919 in der Lexington Avenue die berühmte Kunstbuchhandlung und den Verlag Weyhe Gallery gegründet. Er starb 1972, so dass ihn seine Nichte nicht mehr in seiner Buchhandlung besuchen konnte, aber der Onkel kam bisweilen auch in Salzwedel zu Besuch.
Bei unserem Besuch nun während unserer Ferien lernten wir diese alerte, präsente Buchhändlerin kennen, die mit Sicherheit nach wie vor von jedem Buch, jeder Landkarte, jedem Kalender in ihrem Sortiment weiß, wo sie stehen. Vor ihrer Ladentheke hat sie Bücherstapel mit den Titeln, die ihr wichtig sind, u.a. natürlich und mit viel Stolz darauf hingewiesen, das oben erwähnte Büchlein mit ihrem Interview, dazu von Erich Kästner „Über das Verbrennen von Büchern“ oder sein Tagebuch „Notabene 45“. Und Erika Manns Kinderbuch aus dem Jahre 1932 „Stoffel fliegt übers Meer“, mit den Illustrationen von Ricky Hallgarten (1902-1932), in den Klaus Mann so unsterblich verliebt war. Heute erscheint das Buch – bereits in der 3. Auflage - im Verlag Kirchheim, München. Man kann sicher davon ausgehen, dass viele der verkauften Exemplare auf das Konto von Helga Weyhe gehen.
Und nach wie vor organisiert sie auch Lesungen in ihrem Laden, bei denen alle sicher sehr zusammenrücken müssen (aber sind das nicht die schönsten Lesungen?), für den Herbst sind schon wieder neue geplant.
Dennoch, das gesteht sie in einem Interview dem Deutschlandfunk 2017 [3], ihr größter Traum wäre es, wenn sie einmal eine Lesung mit Paul Auster abhalten könnte. Großspurig habe ich ihr versprochen, meine Drähte als Literaturagent im Ruhestand in Gang zu setzen, um zu helfen, den Traum möglicherweise Wirklichkeit werden zu lassen. Vielleicht mache ich mir Illusionen, aber ich rechne dabei mit der aktiven Hilfe von Austers deutschem Verlag, dem Rowohlt Verlag in Hamburg, der mit seinem neuen Sitz im Bieberhaus zur Buchhandlung Weyhe in der Altperverstraße nº 11 in 29410 Salzwedel keine 140 km weit weg liegt.
Wie wär’s, Florian Illies?
Es wäre doch ein gelungener Werbestreich, und Sie und Paul Auster würden Frau Weyhe überaus glücklich machen können, die in ihren 64 Jahren als Buchhändlerin schon so viele Bücher aus dem Rowohlt Verlag verkauft hat, und es wären noch viele, viele mehr gewesen, wenn die DDR-Administration nicht so lähmend lange Zeit dazwischengefunkt hätte.
Gelegenheit wäre am 11. Dezember. Dann feiert Helga Weyhe nämlich ihren 97. Geburtstag…
P.S. 1.: 12. September 2019 - Leider wird aus dem Besuch von Paul Auster in Helga Weyhes Buchhandlung nichts, der Rowohlt Verlag hat - wenn auch in herzerfrischender Weise - absagen müssen:
P.S. 2.: Dienstag, 5. Januar 2021 - Heute traf die Nachricht ein, dass Helga Weyhe am gestrigen Montag im Alter von mittterweile 98 Jahren verstorben ist. (Quelle MDR: https://bit.ly/391ys6X)
[1] DIE ZEIT vom 3. September 2009 "Jenseits von Gorleben" - Link
[2] Eine Publikation der Staastakademie an der Neustädter Hof- und Stadtkirche Hannover. Zu bestellen bei: hesperus@t-online.de
[3] Sendung vom 15. November 2017 - Link
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