30. September 2024 - Ein erneutes Mal unterläuft mir bei der Besprechung eines Buches in meinem Blog, dass ich in persönliche Erinnerungen abschweife, mich für einen Moment in ihnen verliere. Einen solchen Effekt halte ich für gestattet, er gehört in meinem Verständnis beim Lesen und Schreiben dazu. Der Autor des Buches, bei dem es dieses Mal geschah, wird es mir nicht übelnehmen, da bin ich sicher. Meine Rezension, die diesen heutigen Post wird am Erstverkaufstag des Buches, morgen am 1. Oktober, erscheinen, er wird sich dann um den Titel Johann-Günther König: Anschluss verpasst! · Die Krise der deutschen Bahn (zu Klampen Verlag - >>> Link) handeln.
Mich verbindet eine lange, vor allem in meinen Kinderjahren erlebte Liebe zu diesem Transportmittel auf Schienen, denn mein Großvater war von Beruf Reichsbahnoberinspektor, und es war immer ein Erlebnis, wenn er bei meinen Besuchen der Großeltern in Hildesheim mit mir zum dortigen Hauptbahnhof lief oder wir mit dem O-Bus dorthin fuhren. Er hatte dort immer noch Kontakt zu einigen seiner alten Berufskollegen. So durfte ich sogar immer mal wieder mit ihm auf die Lokomotiven dort auf dem Bahnhof steigen. Das waren damals immer Dampflokomotiven, denn die Strecken aus dem Süden nach Norddeutschland und Bremen waren erst ab Dezember 1964 elektrifiziert worden.
Einmal durfte ich sogar mit dem Großvater auf der Lok von Hildesheim bis Hannover mitfahren, also auf dem Führerstand zusammen mit dem Lokomotivführer und dem Heizer, hinter uns der Tender mit der Kohle und dem Wassertank. Zurück fuhren wir von da wieder zurück mit der Straßenbahn, die damals noch die beiden Städte über Land verband, mit der Linie 11. Gute dreißig KIlometer waren das. Auch das ein Erlebnis. Oder er bestieg mit mir eines dieser hohen Stellwerke, auf dem ich mit den großen Kurbeln die Schranken der Straße, die neben dem Stellwerk verlief, schließen und öffnen durfte.
Relikt aus braunen Zeiten
Zu Hause lag bei uns im Bücherschrank ein dicker, gute 500 Seiten starker 'Wälzer', der zum 100. Jubiläum der Eisenbahnen Deutschlands publiziert worden war. Ein pompöser Luxusband, der allerdings durch das permanenter Blättern darin aus den Fugen geraten war. Jene Jahrhundertfeier wurde 1935 begangen, so war diese Ausgabe in voller propagandistischer NS-Manier ediert.
Das stieß mir als kleiner Junge nicht auf, es reizte mich immer im Gegenteil wieder, das Buch zu durchblättern, ganz vorbehaltlos. Es war reichlich bis opulent illustriert, sogar manche Seiten in Farbdruck, auf dem Frontispiz ein Foto von Hitler, der aus dem Fenster seines Führersonderzuges ihn anhimmelnde Frauen die Hand gab.
Wenn mir jetzt dieses Buch mal wieder meine Erinnerungen an die Welt der Eisenbahnen hochsteigen lässt, also an meine fünfziger Jahre, in denen ich groß wurde. Damals brütete im Bücherschrank des Hauses durchaus unverhohlen noch so manches Druckerzeugnis und wurde gehütet aus der Zeit, die nur ein paar wenige Jahre zurücklag. ¹)
Was wusste er?
Erst sehr viel später tauchen Zweifel auf, was denn dieser doch so wunderbare Großvater, der Anfang der 60er Jahre starb, von den Transporten von Millionen Menschen wusste, die die Deutsche Reichsbahn in die KZs des Nationalsozialismus zu verantworten hatte. Dieser Großvater, der einem Bilderbuch entspringen schien und mich in die Welt der Eisenbahn entführt hatte. Der mir bei unseren gemeinsamen Spaziergängen an der Innersten, dem Fluss, der durch Hildesheim fließt, immer aus den Zweigen der den Fluss angrenzenden Weidebäumen Flöten schnitzte, die sogar funktionierten.
Was mag ein hoher Beamte der Reichsbahn, der dazu in den Kriegsjahren als Ingenieur bei einer Gleisbaufirma in Hannover gearbeitet hatte, über jene langen Güterzüge gewusst haben, die über die Gleise der deutschen und besonders der Bahnhöfe, die zu seinem Arbeitsbezirk gehörten, Hannover und Hildesheim, Richtung Osten oder Süden fuhren, von denen manche auch immer mal längere Zeit auf den Gleisen abgestellt standen, ohne dass die Türen der Waggons geöffnet wurden.
Was wussten er und seine Kollegen von der Ladung dieser Züge, deren Zweck und vor allem von deren Zielstationen? Ich denke da besonders an die Deportations-Züge, die aus Richtung Nordwestdeutschland Richtung Theresienstadt über die Linie Bremen-Hannover-Hildesheim in Richtung des Konzentrationslagers unterwegs gewesen waren. Mit dem vorletzten Zug aus dieser Region vom 24. Juli 1942 mit Abfahrt vom Hauptbahnhof Bremen wurde die Bremer Buchhändlerin Anni Leuwer ins KZ Theresienstadt verschleppt, wo sie am 8. Februar 1943 umkam (>>> Link). In dem gleichen Zug wurde eine weitere Buchhändlerin gepfercht, Antonie Leeser (>>> Link) aus Hannover, die im Oktober 1944 noch von Theresienstadt ins KZ Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde.
Machtergreifungen
Am Ende bleiben meine diesbezüglichen Fragen unbeantwortet, hinterlassen eine Leere, am Horizont taucht das sich in den neuen Sprachgebrauch invadiert habende Wort Remigration auf, sich sprachlich schon bedrohlich dem Begriff Deportation nähernd. Der Schock über verheerende Wählerstimmen für faschistische Gruppierungen, seit gestern auch in Österreich (ohne dass man sich noch wundert). Die Ängsten vor diesen sich formierenden Horden sitzen mittlerweile schon tief. Werden nicht optimistischer in Anbetracht der Tatsache, dass es vor allem immer mehr junge Leute sind die eine faschistische Partei mit ihrer Stimmabgabe an die Macht spülen. Szenen aus dem Thüringer Landtag in der vergangenen Woche sprechen ihre eigene Sprache. Ein Alterspräsident, der schon einmal die Machtergreifung in obszön antidemokratischer Manier probt. Erinnerungen an Bilder und Filme tauchen vor dem geistigen Auge auf. Sie sind nachzusehen und zu lesen in so vielen Dokumenten oder Mediatheken, von denen das Internet voll steckt.
Ruhe finden?
Ruhe finde ich kurzfristig wieder, indem ich dieses heute geschrieben habe, und Ruhe in anderen, wieder von Lokomotiven bestimmten Erinnerungen, wenn ich sie wieder einmal im Internet aufrufe, eine meiner Lieblingsschallplatten aus der Kindheit höre ich mir dann an, die »Lok 1414 geht auf Urlaub« (>>> Link). Damals als Kind konnte ich sie auswendig aufsagen (einschließlich der Geräusche…) und ahnte dabei von nichts Bösem...
¹) Die Originalausgabe von 1935 aus dem Familienfundus steht nicht in meiner Bibliothek, aber ein Faksimilenachdruck aus dem Jahre 1985 (1985, bahn Verlag Ulrich Schiefer München). In diesem sind die Abbildungen, Grafiken und Fotos, die noch die 1935er-Ausgabe zu propagandistisch Zecken durchzogen, eliminiert. Das ist sicher angebracht, zumal dieser editorische Eingriff im Text des Vorwortes dieses Nachdrucks mit einem Kommentar von dem Kulturhistoriker und Publizisten Hermann Glaser begründet wird.
Bei meinen Recherchen bin ich auf dieses Buch gestoßen, herausgegeben ist es von Andreas Engwert und Susanne Kill und erschienen erstmals 2009, in 2. Auflage 2019, jeweils im Böhlau Verlag. Ich habe es geordert und werde sicher hier in meinem Blog darauf zurückkommen.
Klappentext: Die Deutsche Reichsbahn war mit der Deportation zahlloser Menschen beauftragt und damit unmittelbar am Holocaust beteiligt. Ohne den Einsatz der Eisenbahn wäre der systematische Mord an den europäischen Juden, Sinti und Roma im Zweiten Weltkrieg nicht möglich gewesen. Heute schätzt man, dass etwa drei Millionen Menschen aus fast ganz Europa mit Zügen zu den nationalsozialistischen Vernichtungsstätten transportiert wurden. Die vorliegende Dokumentation »Sonderzüge in den Tod – Die Deportationen mit der Deutschen Reichsbahn« will an das unermessliche Leid erinnern, das diesen Menschen zugefügt wurde. Sie zeigt Einzelschicksale von Kindern, Frauen und Männern, die von ihren Heimatorten in den Tod transportiert wurden. Überlebende schildern in Zeitzeugeninterviews die grauenvollen Zustände in den Zügen. Die Verantwortlichkeiten sowie die fahrplanmäßige und betriebliche Durchführung dieser Transporte durch die Reichsbahn werden anhand von Dokumenten und Grafiken dargestellt.
Wenn Du willst, kannst Du mir gerne Deinen Kommentar schicken, und zwar an diese Mail-Adresse: blog.guenny@mercadodelibros.info
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