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AutorenbildGuenter G. Rodewald

Die Hölle auf Erden

Aktualisiert: 15. Nov. 2020


Im Rahmen des Programms der 13. Ausgabe des Bremer Literaturfestivals globaleº 2019 (http://globale-literaturfestival.de) fand eine außergewöhnliche Buchvorstellung an einem noch ungewöhnlicheren Ort statt: im Denkort Bunker Valentin im Bremer Norden stellte der mittlerweile in Bremen lebende und arbeitende Autor und Zeichner Jens Genehr (*1990, Nürnberg) sein Debüt vor, die graphic novel ‚VALENTIN‘.


Ungewöhnlich der Ort deshalb, weil ungemütlicher, feindlicher kann eine Umgebung kaum sein als dieses Monument menschenverachtender Ingenieursarbeit, dennoch umso passender, denn Genehrs Comic agiert in und um diesen Betonklotz und spiegelt genau den Wahnsinn, die Grausamkeit wider, die dieses Bauwerk hat entstehen lassen, ebenso wie es die Gleichgültigkeiten zeigt, die solche Barbareien nur möglich gemacht haben.


Er greift dazu zu zwei geschickten dramaturgischen Mitteln: das erste ist die historische Figur des Fotografen Johann „ Jonny“ Seubert, der in Blumenthal, damals noch Ortsteil von Vegesack, eine gutgehende Drogerie mit angeschlossener Fotoabteilung betrieb und der 1944 von den Verantwortlichen der Bunkerbaustelle engagiert wurde, den Fortgang der Bauarbeiten zu dokumentieren, der es aber als geübter Mitläufer in perfider Perfektion verstanden hat, in den über 1.500 erhaltenen Fotografien die Leiden der Zwangsarbeiter und die vielen Toten, die das Projekt zu verantworten hat, auszublenden.


Die Drogerie des Johann 'Jonny' Seubert in Blumenthal

Dagegen schämen sich seine Bilder nicht, das eher ‚leichte‘ Leben der Ingenieure, ihrer Begleitungen, ihre gemeinsamen Bootsausfahrten auf der Weser zu zeigen, wenn auch immer mal wieder im Hintergrund die Wachtürme, Baracken, Stacheldrahtzäune und Zwangsarbeiter in ihren schwarz-weiß-gestreiften Häftlingsanzügen auftauchen und nicht wegretuschierbar waren.


Der andere von Genehrs Regietricks sind die Aufzeichnungen von Raymond Portefaix, die er in seine Erzählung über das Lager integriert. Portefaix wurde als fast 18-jähriger Jugendlicher aus dem französischem Dorf Murat in der Auvergne nach Bremen als KZ-Häftling auf die Bunkerbaustelle verschleppt. In Hortensien in Farge: Überleben im Bunker ‚Valentin‘ (Bremen, 1995) berichtet er durchaus und in allen Details über die Qualen, die Folter, den Hunger, legen die zwischen 2.000 und 5.000 geschätzten Toten (eine genaue Zahl ist nicht zu ermitteln) Zeugnis ab.


Diese Schilderungen bilden den Hintergrund der novel, wechseln sich ab mit den in den Comic hinein-projizierten Fotos des Drogisten-Fotografen Jonny, ein Wechselspiel, durchaus filmisch angelegt, quasi ein storyboard, das das Grauen abwechselnd aus der Perspektive der Täter und der Opfer schildert. Darüber hinaus schöpft Genehr aus vielen weiteren historischen Quellen. Er hat sehr genau und gewissenhaft recherchiert.



Am Ende steht die Befreiung des Lagers durch alliierte Truppen, die aber alles andere als tröstlich verläuft, die letzten Worte im Lager aus dem Munde von Jacques: „Du weißt, was man über die Hölle sagt? Sie geht nicht vorbei…sie währt ewig.“


Aber hier ist die Geschichte noch nicht an ihrem Ende: dem eiskalten Fotoreporter Jonny Seubert gelingt es sofort, sich auch bei den neuen Siegern einzuschmeicheln, seiner Tätigkeit nunmehr als Reporter für die US-Amerikaner steht nichts im Wege, ein kleinbürgerlicher Kriegsgewinnler, ausgestattet mit den hilfreichen ‚Persilscheinen‘ einer von denen, die den Unterbau des Terrors gebildet haben. Und genauso waschen sich diejenigen, die an dem Bau als Verantwortliche beteiligt waren, ihre Hände in der bundesdeutschen Unschuld rein.



Aber ganz am Ende von ‚VALENTIN‘ kommt gerechterweise Raymond Portefaix noch einmal zu Wort, es ist das Jahr 1991. Er berichtet in einem TV-Interview von der Heimkehr nach Kriegsende der wenigen der 120 verschleppten jungen Männer in ihr Dorf Murat, „gerade mal 30 waren wir, die zurückkehrten“ und schildert die Enttäuschung und Verzweiflung derer, deren Angehörige nicht mehr zurückkamen. Aber auch die der Überlebenden:


“Wie erklären, dass man selbst überlebte, während die Freunde und Kameraden starben?“

„Wie hast Du überlebt…und die anderen nicht?“

„Das war ein Teil dieser Hölle, die Dante nicht vorhersehen konnte. Und genau darüber wollte, nein, musste ich schreiben.“


So endet ‚VALENTIN‘.

Gut, dass dem Band ein Nachwort beigefügt ist, das von Karen Struve, Literaturwissenschaftlerin an der Universität Kiel, und Christel Trouvé, der wissenschaftlichen Leiterin des Denkort Bunker Valentin, verfasst wurde. Es wirft zusätzliches Licht in den historischen Hintergrund des Comics, ebenso ist es ein Plädoyer für das Medium Comic, respektive der graphic novel, um bei der Verarbeitung solcher Grauen zu helfen, dieser Grauen und Grausamkeiten, wie es der Hitlerfaschismus vollbringen konnte.


Überhaupt wird sich Genehrs ‚VALENTIN‘ – gerade wegen seiner dem Comic eigenen ‚Einfachheit‘ und Direktheit - in Schulen und Initiativen bestens eignen, um gerade junge Leute alert zu machen gegen Auswirkungen von autoritären und rechtsradikalen Indoktrinationen.


Aber ‚VALENTIN‘ nur eine solche pädagogische Qualität zuzubilligen, würde seinem Autor und seinem zeichnerischen Talent in keiner Weise gerecht. Denn durch die lange gute sechs Jahre währende Arbeit an seinem Werk (es war sein zentrales Projekt während seines Studiums an der Hochschule für Künste Bremen) hat er einen sehr persönlichen Stil seiner Zeichnungen entwickelt, der auf den ersten Blick beinahe improvisiert erscheint, der aber dem Leser und Betrachter Seite für Seite in größere Schrecken versetzt, parallel zu den unzähligen Opfern, die dieses monströse Bauwerk gekostet hat.


Dieser obszöne Betonklotz, der nicht nur durch den Nazi-Wahnsinn ermöglicht wurde, sondern auch durch das Mitläufertum und das Nichthinschauen der Bevölkerung der umliegenden Dörfer und Ortsteile Neuenkirchen, Schwanewede, Farge, Rekum, Löhnhorst, Rönnebeck, Blumenthal und Vegesack ebenso von gegenüber, der anderen Weserseite, von Elsfleth und der Wesermarsch. Der Betonkoloss von mehr als 400 Metern Länge und 33 Metern Höhe, die unendlichen Erdbewegungen, aber vor allem die sieben Häftlingslager in der Umgebung und die Märsche der Zwangsarbeiter durch die Orte, das alles war unübersehbar, war für alle, die es nur wollten, sichtbar.

Jens Genehr am Denkort Bunker Valentin

Abschließend soll keinesfalls die gute editorische Leistung verschwiegen werden, die dem jungen Verlag Golden Press aus Bremen mit dieser Ausgabe von Genehrs ‚Valentin‘ gelungen ist. Die Zeichnungen erscheinen nicht in einfachem schwarz-weiß, sondern in einem der Stimmung angepassten dunkelgrau-weiß auf ebenso passendem, schwerem Papier (genaue Angaben fehlen im Copyright) in ganz schwacher Sepia. Die 240 Seiten sind solide gebunden und damit für häufiges Öffnen und Ansehen der graphic novel bestens vorbereitet.


Man kann dem Verlag und seinem Team nur alles Gute wünschen, die jungen Buchhändler, die sich vor zwölf Jahren schon durch großen Mut und erfreuliche Zuversicht ausgezeichnet hatten, als man gewissermaßen im Auge des Hurrikans die kleine Buchhandlung ‚The Golden Bookshop‘ im Souterrain des Fehrfeld 4 des Bremer Steintorviertels eröffnete, just in front des alteingesessenen Dinos ‚Buchladen im Ostertor‘ und nur ein paar Steinwürfe entfernt von den weiteren im Viertel agierenden Buchhandlungen. Chapeau!


Dafür wurden die jungen Buchhändler auch bereits von höchster Stelle belohnt, denn ‚The Golden Shop‘ wurde zweimal 2016 und 2018 der Preis in der ‚Kategorie hervorragende Buchhandlungen‘ des Bundesministeriums für Kultur verliehen.

Ab sofort könnte Golden Press sich außerdem in die Reihe der Preisträger des Deutschen Verlagspreises einreihen, der seit diesem Jahr – ebenfalls vom Staatsministerium für Kultur und Medien – an independent publishers vergeben wird.


Warum so viele Begriffe auf Englisch? Nun, für die graphic novel gibt es doch noch kein wirkliches Pendant in der deutschen Sprache. Oder würden Sie eine Buchhandlung betreten und nach dem neuen ‚grafischen Roman‘ von Jens Genehr fragen?


Na also! Fragen Sie doch einfach nach ‚VALENTIN‘ von Jens Genehr. Die Lektüre wird gefallen, aufwecken und erschaudern…


vvv
Bunker Valentin - nach einer Zeichnung von Jens Genehr


Nachbemerkung I: Nicht unerwähnt soll die wohltuende Idee bleiben, vor und nach der unbestritten streckenweise bedrückenden Präsentation im Denkort Bunker Valentin die tschechische Band Tomáš Palucha aufspielen zu lassen. Man bekam danach dann einfach besser Luft...


Nachbemerkung II: Der Autor war seitens des Bremer CDU-Landesverbandes gefragt worden, ob man Auszüge aus 'VALENTIN' in deren Geschäftsräumen ausstellen könne. Das hat Genehr abgelehnt. Lesen Sie seine Stellungnahme hier. Dennoch könnte beispielsweise die Untere Rathaushalle ein geeigneter, unbelasteter Ort für eine solche Ausstellung sein, leider ist das Gebäude der Bremischen Bürgerschaft durch die Bauarbeiten noch lange gesperrt. Das wäre auch über alle Zweifel erhabener Raum gewesen.

 

Weblinks:

 

Wenn Du willst, kannst Du mir gerne Deinen Kommentar schicken, und zwar an diese Mail-Adresse: blog.guenny@mercadodelibros.info - Ich freue mich über jede Reaktion.


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