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  • AutorenbildGuenter G. Rodewald

Ein DreigroschenMUSICAL

Aktualisiert: 2. Okt. 2022


1985 muss es gewesen sein, als ich einen Philips-Kofferplattenspieler Modell ‚Cortina‘ zu Weihnachten geschenkt bekam, mit drei Geschwindigkeiten 33, 45 und 78 U/min und ohne eingebauten Lautsprecher, den ich aber dann mit meinem damals hochmodernen dänischen 12 Transistorradio All Wave LL Piccolo der Firma Linnet & Laursen in Palisanderholz verbinden konnte, das ich mir von meinem Honorar als Elefantentreiber in den gut 50 Aufführungen des Weihnachtsmärchens ‚Aladin und der Wunderlampe‘ von 1965 in Regie von Alfred Kirchner und Kurt Hübner [1] hatte kaufen können und auf das ich stolz wie jener Oskar war.


Zu dem weihnachtlichen Geschenk gab’s obendrein noch zwei Langspielplatten, die mein Vater als Buchhändler ‚hintenherum‘ mit Kollegenrabatt über den Bertelsmann-Lesering günstig beziehen konnte: Sandor Konya singt Opernarien und Lotte Lenya singt Kurt Weill, womit wir schon fast beim Thema meines heutigen Blog-Beitrags angelangt wären.


Denn von Lotte Lenya gesungen hörte ich das erste Mal Lieder von Bertolt Brecht, respektive Kurt Weill, und eben auf dieser LP gab es auch drei Songs der Dreigroschenoper, die ich dann immer wieder komplett in der Stadtbibliothek, damals noch im Schüsselkorb, begeistert anhörte. Und nun bin ich tatsächlich da angekommen, worüber ich berichten wollte: von der Premiere am vergangenen Samstag dieses Theater-Klassikers des 20. Jahrhunderts im Theater Bremen.


Vorweg erst einmal dieses: Was müssen die Entwicklung, was die Proben, was muss die gesamte Herstellung dieser Produktion allen Beteiligten für einen Spaß gemacht haben? Denn diese Premiere wurde mit so großer Emphase und so immensem Spielvergnügen, in so vergnüglicher Kurzweil dargeboten, dass sie am Ende mit dem begeisterten, minutenlangen Jubel des Publikums hoch verdient belohnt wurde.


Womit fange ich an? Na, mit den Musikern! Was dem musikalischen Leiter Tobias Vethake - selbst eine anerkannte Größe in der Bremer Musikszene - da mit der Besetzung seiner Band gelungen ist [2], verdient allerhöchsten Respekt, allen voran Romy Camerun, die - außer dass sie das Piano und das Harmonium bespielte - für die Gesangseinstudierung des Schauspielerensembles verantwortlich war.


Was ihr blendend gelungen ist! Denn was alle Akteure – neben ihren virtuosen schauspielerischen bis in Teilen artistischen Leistungen – an gesanglicher Qualität vorführen, verdient große Anerkennung, sie bieten nicht nur ausdrucksstarken, sondern auch technisch professionellen Gesang. Und es war eine gute Idee, sie mit den dezenten Headset-Mikros auszustatten, denn so kamen ihre Gesangsstimmen besser zur Geltung, auch dank der hervorragend ausgesteuerten Tonregie.


Das Bremer Dreigroschenensemble und die Bremer Dreigroschenband - Foto: Jörg Landsberg

Wen darf ich von den elf Akteuren besonders hervorheben? Eigentlich niemanden, denn sie verdienen alle die Note „sehr gut“, keiner fiel ab, weder die Protagonisten noch irgendjemand von den „Neben“darstellern.


Und doch sollte ich Simon Zigah erwähnen, der einen authentischen Clan-Boss Macheath, alias Mackie Messer, abgibt, aber dennoch und trotz seines überlangen Strafregisters („zwei Kaufleute umgebracht, über dreißig Einbrüche, dreiundzwanzig Straßenüberfälle, Brandlegungen, vorsätzliche Morde, Fälschungen, Meineide, alles in eineinhalb Jahren“) Sympathie erweckt, und mit seiner Ballade vom angenehmen Leben, seinen Duetten mit Annemarie Bakker als Polly oder mit Martin Baum als Tiger Brown im Kanonensong brilliert.


Die Polly von Annemarie Bakker war ein weiteres Highlight des Abends, wunderschön gesungen das Lied der Seeräuber-Jenny, das man in dieser Produktion ihr gegönnt hatte. Susanne Schrader und Guido Gallman als Mrs. und Mr. Peachum, beide wunderbar und voll in ihren Rollen aufgehend. Emil Borgeest als Smith, als einer der Bettler und als eine der Huren: ein Vergnügen, ihm zuzusehen. Und überhaupt alle, die diese Gruppe formierten: perfekte Spieler.


Aber hervorgehoben gehört ebenso der Tiger Brown von Martin Baum, der den bis in die Knochen korrupten Londoner Polizeichef so unverschämt komödiantisch gibt und dabei die Lacher des Publikums auf seiner Seite verbuchen kann.


Nur zwei, drei Mal gab es Szenenapplaus nach den Songs, Duetten oder Ensembles, was mehr als gerechtfertigt gewesen wäre, aber das Tempo der Aufführung war dafür zu hoch - sofort nach der letzten Note, dem abschließenden Akkord ging es weiter im Text.


Die Bühne von Katrin Plötzky, ein aus verrotteten, morschen Hölzern gebauter Hügel, hinter dem die Schauspieler mal hoch befördert oder versenkt wurden, bot dem Spiel viel Gelegenheit für überraschende Aktionen. Das Orchesterplateau auf der Vorbühne war dazu in das Szenario integriert und wurde immer wieder mal nach oben und nach unten gefahren und in die Aktionen der Darsteller einbezogen.


Seile hingen aus dem Bühnenboden, an denen sich immer mal wieder die Darsteller hin- und herschwangen, ebenso monströse Ventilatoren, der Galgenstrick für Macheath, ein überdimensionales Megaphon, über den am Ende Tiger Brown mit schnarrender Stimme als „des Königs reitender Bote“ Mackie Messers Begnadigung verkündet, während er tatsächlich nicht reitend, sondern an Drahtseilen hängend über der Szene schwebt und sich dabei auch noch verheddert.


Das ist eine der Szenen, wo sich der Slapstick nicht versteckt, im Gegenteil aus dem Vollen schöpft, sehr zum hörbaren Vergnügen der Zuschauer. Das ist alles erlaubt, trägt es doch zum fröhlichen Treiben auf der Bühne bei und wird dabei nie peinlich.


Und gegenseitig schlagen, stoßen, prügeln sich die Akteure. Ein hartes Klima herrscht unter den Bettlern von Soho! Bei mancher Aktion fließt so auch echtes Zadeksches Theaterblut, das bei der legendären Inszenierung von Schillers Räubern 1966 das erste Mal auf der Bühne des Theaters am Goetheplatz so reichlich floss und damals großes Entsetzen im Publikum erzeugte.


Die Lumpenkostüme von Karen Simon, die verbeulte skurrile Maske und das Ganzkörper-Make-Up (Derek Halweg) statten die gesamten Bettlertruppe adäquat aus, zumal dann noch überall aus den löchrigen Klamotten, den Requisiten, von der Bühne permanent Staub aufgewirbelt wird und bis in die ersten Reihen des Parketts weht (wer muss das nach Vorstellungsende bloß alles wegsaugen…?).


Die gesamte Elf der Bremer Dreigroschenmannschaft - Forto: Jörg Landsberg

Traditionell stellt ein Rezensent eigentlich eher immer an den Anfang seiner Ausführungen seine Kommentare zur Inszenierung selbst und zu dem dafür Verantwortlichen. Aber in diesem Fall gebührt ihm ein kräftiger Schlussapplaus: dem Regisseur Klaus Schumacher, dem hier ein kleines Meisterwerk gelungen ist.


Bei all den vielen komödiantischen Elementen, der geballten Situationskomik, dem rasanten Tempo seiner Inszenierung bleibt er auf seine Weise Brechts Theater dennoch immer treu. Ganz deutlich wird das beim das II. Dreigroschenfinale „Wovon lebt der Mensch?“, wenn Macheath und Polly an den Bühnenrand treten, der Chor im Hintergrund, und dieses zentrale Stück der Dreigroschenoper singen, dazu so ergreifend, dass sich einem fast eine Gänsehaut aufstellt. Ein ganz starker Moment an dem Abend.


Schumacher zeigt dem Bremer Publikum erneut sein großes Talent, seine Schauspieler mit seiner Theaterlust zu infizieren, aber noch mehr: auch seine Zuschauer versteht er, gehörig anzustecken.


Ich verspreche ihm und seiner Truppe: ich komme wieder! Diese Dreigroschenoper werde ich mir noch ein weiteres Mal ansehen, oder besser gesagt: dieses DreigroschenMUSICAL!

 

[1] siehe meinen Blog: https://bit.ly/2VgmSj5

[2] Die vollständige Besetzung der Band & des gesamten künstlerischen Ensembles siehe hier: https://bit.ly/2wzdxsf

 

Bis zum Ende der laufenden Spielzeit des Theater Bremen sind noch 14 weitere Aufführungen der Dreigroschenoper geplant: https://bit.ly/2TavncK.

 

Wenn Du willst, kannst Du mir gerne Deinen Kommentar schicken, und zwar an diese Mail-Adresse: blog.guenny@mercadodelibros.info.


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