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AutorenbildGuenter G. Rodewald

Eine Einladung? Wirklich?

Aktualisiert: 23. Apr.


Eine Einladung - diesen Untertitel gibt die Herausgeberin der gerade im Wagenbach Verlag erschienenen Anthologie BARCELONA · Eine literarische Einladung der porträtierten Stadt, aber man wird unsicher, ob man die Einladung annehmen soll, nachdem man ihr Vorwort gelesen hat, in dem sie von so manchem Ableben und krassen Veränderungen berichtet, das sich in der katalanischen Metropole vor ihren eigenen Augen abgespielt hat. Aber am Ende zieht sie doch vor, uns zu beruhigen, indem sie ihre Einleitung mit diesen Worten schließt: »Die Attraktivität der Mittelmeermetropole bleibt also ungebrochen, und ebenso die Gewissheit, dass die Stadt sich immer wieder neu erfindet. Das hat ihre abwechslungsreiche Geschichte eindrucksvoll bewiesen, wie in alten und neuen Werken nachzulesen ist – und auch in den aktuellen Texten dieser Anthologie.«


Und der Verlag hätte für die Herausgeberschaft kaum eine geeignetere Person auswählen können als die, der man jetzt diese Aufgabe übertragen hat, nämlich Michi Strausfeld, die sich nicht nur in der spanischen und lateinamerikanischen Literatur und der spanischen Verlagswelt bestens auskennt, sondern auch um die heimlichsten Geheimnisse der Stadt weiß, in der sie immer wieder gelebt hat und mit deren literarischen Welten, Personen und spezifischen Gegebenheiten sie tief vernetzt ist. Sie kennt die beiden Verlagsstädte Madrid und Barcelona eben auch schon lange aus der Zeit, bevor Barcelona zu einer der heute meistbesuchten Metropole Europas wurde, als sie nämlich 1986 zur Olympiastadt proklamiert wurde. Nach neuesten Erhebungen rangiert sie heute tatsächlich in Europa als Nummer eins der meistbesuchten Städte Europas, und das vor Paris und London, die bislang an erster und zweiter Stelle rangierten.


Das bedeutet allerdings auch, dass dieser massive Tourismus der Stadt mit ihren (vor der Pandemie gezählten und 2017 erhobenen) jährlichen gut 3.000.000 Kreuzfahrtpassagieren und laut offizieller Statistik 2019 (auch vor Corona) mit den 52.688.455 gelandeten und gestarteten Fluggästen im El Prat große und tiefe Verletzungen zugefügt hat. Über diese Verwundungen schreibt Strausfeld in ihrem Vorwort, berichten und trauern auch manche der Autoren, die sie für diese Sammlung ausgesucht hat.



In einer berührenden Geste stellt Strausfeld dem Buch ihrem Vorwort die Widmung Für Carlos Ruiz Zafón (1964–2020), in memoriam voran, dem Autor, der Barcelona nach Eduardo Mendozas Roman Die Stadt der Wunder (Suhrkamp, 1989), der in den Jahren zwischen den Weltausstellungen 1888 und 1929 spielt, die Barcelona beherbergt hatte, ein zweites Monument gesetzt hat: Zafóns Der Schatten des Windes (S. Fischer, 2003) spielt in den Jahren 1945 hinein in die sechziger Jahre. Dazwischen können wir literarisch Barcelona in den verheerenden Enddreißiger Jahren des Bürgerkrieges erleben, die das Land und die Stadt in den darauf bald vierzig Jahre dauernden Faschismus verschleppten, wenn wir Hans Magnus Enzensbergers aus der äußeren Perspektive geschriebenen Roman Der kurze Sommer der Anarchie (Suhrkamp, 1972) lesen.


Ich erlaube mir, hier an die Anekdote zu erinnern, die Zafóns weltweiten Erfolg mit Der Schatten des Windes angestoßen und damit auch der modernen spanischen Literatur die eine oder andere Tür im Ausland geöffnet hat. In der jahrelang ausgestrahlten, sehr beliebten Sendung der Autorin und Literaturkritikerin Else Heidenreich Lesen! war im unmittelbaren Vorfeld der Frankfurter Buchmesse 2003 dem Buch von Zafón durch den damaligen und anerkannt vielbelesenen Außenminister (und quereingestiegenen Buchhändler!) Joschka Fischer ein hohes Lob ausgestellt worden, das die Verkaufszahlen der deutschen Ausgabe in allerhöchste Höhen katapultierte. Bis dahin hatte sogar die spanische Ausgabe von Editorial Planeta eher bescheidene Verkaufszahlen eingespielt, aber die auf hoher Ebene ausgestellte ministerielle Lobpreisung sprach sich sofort auch in Spanien herum und ebenso machte sie ihre Runde um die Welt. Ein Welt-Bestseller war geboren…


Nicht nur ihre Widmung gönnt sie dem viel zu jung in Los Angeles gestorbenen Autor, auch darf er den Reigen der neunzehn Autoren und Erzählungen, die die Anthologie ausfüllen eröffnen: in „Aufbruch“ lässt Zafón einen japanischen Architekten in die Stadt reisen, mit dem Wunsch, den berühmten katalanischen Baumeister Antoni Gaudí treffen und kennenlernen zu können. Er verpasst ihn allerdings um ganz wenige Tage – und das definitiv, nämlich nach dessen Tod.


Ein Tod, der noch heute unglaublich und wie literarisch erfunden erscheint: nachdem er 1926 ganz in der Nähe seines zentralen Bauwerks, der Sagrada Familia, von einer Straßenbahn überfahren worden war, man ihn aber nicht erkannt hatte, denn er machte vollbärtig und in zerschlissener Kleidung einen recht verwahrlosten Ausdruck, so dass man ihn für einen Bettler hielt, dem deshalb auch wohl die angemessene medizinische Versorgung versagt blieb. Ein Taxifahrer fuhr ihn endlich in eine Klinik, worauf er erst drei Tage später von seinen Mitarbeitern gefunden wurde, aber einen Tag später verstarb.


In einer anderen Geschichte bekommen wir es ein weiteres Mal mit dem großen Gaudí zu tun, in »Die graue Stadt« träumt der Verleger und Autor Enrique Murillo (*1944) davon, eben genau diese Sagrada Familia in die Luft sprengen zu wollen. Wir erfahren auch, warum. Dass es sich nur um einen Traum handelte, zeugt der heutige immer weiterwachsende Zustand der Kathedrale, die man für den Preis von höchst bescheidenen € 32,50 besichtigen kann. (Als wir die Kirche 1985 das erste Mal besuchten, kostete der Eintritt zehn duros, 50 Peseten, gleich 85 Pfennige, allerdings war der Bau damals nur eine reine Baustelle, auf der eine Handvoll Steinmetze und Mauersleute ihrer Arbeit nachgingen.


Alle der neunzehn Beiträge bringen uns auf sehr angenehme und spannende und durchaus exemplarische Weise der Stadt näher, entweder um sie einmal näher kennenzulernen oder um sich an sie zu erinnern, nachdem man sie auf Reisen oder bei längeren Aufenthalten bereits erlebt hat. Ob da ein Klassiker wie Juan Marsé (1933-2020) mit »Auf der Suche nach einem Papierflieger« zu Wort kommt, oder eine Cristina Morales (*1985) mit »In Lumpen durch la Bordeta«, Autorin, die kürzlich in unserer Stadt zu Gast war (https://bit.ly/3BnExJe).


Javier Cercas (*1962) macht es ganz kurz, drei Seiten reichen, um in Kafka in Barcelona einen dieser typischen Urlaubsmonate wie den August zu beschreiben, in dem man besser die Stadt verlässt, als zu glauben, man hätte in ihr Ruhe, um einen Roman zu schreiben, weil doch alle Welt aus der heiss aufgedunsenen, schwülen Metropole flieht.


Gefreut habe ich mich zunächst, den Beitrag von Enrique Lynch (*1967) »Stadt der Euphemismen« zu lesen, bis ich im Appendix erfahren muss, dass er vor zwei Jahren verstorben ist. Ich kannte ihn gut und wusste bislang nichts von seinem Tod.


Oder Carlos Zanón (*1966), der von der Familie des 2003 so tragisch verstorbenen Manuel Vázquez-Montalban auserkoren wurde, dessen Figur des Privatdetektiven Pepe Carvalho weiterleben zu lassen, mit seiner Erzählung »Aufbruch«.


(Hier sei eine persönliche Exkursion erlaubt - apropos Carvalho: schön, dass Wagenbach mittlerweile neun Romane der Carvalho-Reihe wieder lieferbar gemacht hat; ich werde mir demnächst die Lektüre aller erneut gönnen, waren si damals doch Band für Band, als wir nach Barcelona gezogen waren, unsere literarischen ‚Einstiegsdrogen‘. Viele der stories spielte unten im barri gòtic, in dem wir die ersten acht Jahre lebten, und im El Raval, an der und um die Plaça del Pi oder Plaça Reial. Manches Mal hatte man den Eindruck, neben einem da an der Theke Bar del Pi standen Carvalho selbst mit seiner Charo oder seinem Helferlein Biscuter… ).



Was bei der Auswahl der Beiträge auffällt, ist die mangelnde Geschlechterparität; nur sechs der Erzählungen sind von Autorinnen geschrieben, aber dagegen immerhin dreizehn von männlichen Kollegen. Entspricht das der tatsächlichen Gewichtung beider Geschlechter im literarischen Spektrum? Dann wäre sie mit 31,5% zu 68,5% noch unausgeglichener als die im aktuellen Bundestag.


Auch beim Alter der Autor:innen, bzw. bei den Jahreszahlen der Originalveröffentlichungen der jeweiligen Beiträge ist eine gewisse Unausgeglichenheit zu Lasten der jüngeren Jahrgänge zu beobachten: Durchschnittsalter der Autor:innen: 58, der Publikationen: 11 Jahre. Doch ich muss mich in der weiteren Beurteilung zurückhalten, ob auch das den Realitäten der aktuellen literarischen Szene entspricht. Doch diese drei statistischen Schieflagen sind mir ins Auge gefallen.


Sorgfalt seitens der Herausgeberin und des Verlages ist hingegen deutlich spürbar bei der Auswahl der Übersetzerinnen und Übersetzer, denen man allen sehr gern zuhören mag und die sich die Arbeit untereinander aufgeteilt haben und somit gehören sie auch alle namentlich erwähnt: Angelica Ammar, Elisabeth Brilke, Luisa Donnerberg, Michael Ebmeyer, Linus Guggenberger, Peter Kultzen, Ursula Nachhausen, Heike Nottebaum, Mareike Philipp, Dagmar Ploetz, Carsten Regling, Matthias Strobel und Friedrike von Criegern.


Mir hat die Lektüre des Buches viel Vergnügen bereitet, wenn es auch so viel von der krassen Veränderung der Stadt erzählt. Aber sie hat bei mir viele Reminiszenzen mobilisiert, denn ich habe die mit meinem Mann Hartmut in Barcelona und vor ihren Toren verlebten dreißig Jahre sehr genossen, und natürlich! fehlt uns die gute alte Tante Barna immer mal wieder. Dieses Buch hat sie uns mal wieder für ein paar schöne Momente zurückgeholt. Was verlangt man mehr von einem solchen Bändchen. Danke dafür dem Verlag und Michi Strausfeld und all den vertretenen Autoren!


 

Nachtrag | 4. März 2023: Heute lese ich in der Süddeutschen Zeitung die Rezension von Stefan Fischer, dem die Anthologie von Michi Strausfeld und ihre Auswahl auch ausnehmend gut gefallen hat. Spannend, dass er sie neben eine andere Anthologie mit Texten über die katalanische Hauptstadt stellt, die schon 1999 im Klagenfurter Wieser Verlag erschien, herausgegeben von Herbert Genzmer und Franz Marenits. Über diese Anthologie werde ich demnächst auch etwas schreiben, zumal belohnt werden muss, dass ein Verlag einem Buch eine so lange Treue zeigt. Nicht mehr sehr häufig anzutreffen, in den heute so schnellen unsatzgeilen amazon- und Thalia-Zeiten.


Hier die Rezension von Stefan Fischer (im Netz ohne irendeinen Bruch des Urheberrechts abgefischt): Link

 

Download:

 

Reaktionen:

  • »Danke für die schöne Besprechung.« - Michi Strausfeld, Madrid

  • »Wow, das hört sich spannend und sehr lesenswert an, klasse. Ist schon notiert!« - Arnold A., Bremen

 

Wenn Du willst, kannst Du mir gerne Deinen Kommentar schicken, und zwar an diese Mail-Adresse: blog.guenny@mercadodelibros.info.

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