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AutorenbildGuenter G. Rodewald

Ganz allein auf der Welt

Aktualisiert: 13. Jan. 2021


Für wohl fast jede/n von uns, die wir lesen, gibt es das Kinderbuch, das Leseerlebnis aus Kindertagen, an das wir bis zum heutigen Tag unsere Erinnerung haben, es vor Augen haben, als hätten wir es gerade vor dem damaligen Zum-Schlafen-Gehen zugeklappt. Oder das Buch oder die Bücher, die uns die Eltern vorgelesen haben. So auch bei mir, es sind einige, aber eins sticht hervor. Nicht nur, weil ich es so traumhaft fand (es handelt obendrein von einem Traum!), aber auch weil mich sein Titel bis in die Jahre meiner Pubertät gewissermaßen verfolgte, in ungerechter, unpassender und verletzender Weise von meiner Mutter missbraucht. Das Buch hieß Paul allein auf der Welt. Und die Mutter benutzte, ich fürchte, weil es ihr durchaus bewusst war, dass es mich treffen würde, den Titel abgewandelt in "Du bist doch nicht Günter allein auf der Welt!", wenn sie meinte, unsoziales Verhalten auf meiner Seite tadeln zu müssen. Aber auch dieses schmerzliche mütterliche Erziehungsinstrument konnte mir die Liebe zu diesem kleinen Büchlein im Oktavformat nicht rauben (und auch nicht die zu meiner Mutter).


Dänische Erstausgabe
Meine Ausgabe

Paul allein auf der Welt war erstmals 1942 bei Gyldendalske Boghandel, dem ältesten Verlag Dänemarks, unter seinem Originaltitel Palle alene i Verden erschienen, der Autor war Jens Sigsgaard, die Illustrationen zeichnete Arne Ungermann. In Deutschland erschien es in seiner allerersten Ausgabe 1949 in der DDR beim Altberliner Verlag, in der Übersetzung von Margret Schuldes, seit 1955 erstmals in der Bundesrepublik in einer Lizenzausgabe des Buchheim-Verlags. In dieser Edition ist auch mein historisches Exemplar, das ich zu meinem siebten Geburtstag geschenkt bekam. Später war es dann auf Deutsch länger nicht lieferbar, bis 2016 der Eulenspiegel Verlag das Buch glücklicherweise neu herausbrachte, in einer neuen Übersetzung von Beate Hellbach.


Die Geschichte von Paul ist schnell wiedergegeben: Paul hat die Nase voll von all den Einmischungen, mit denen die Erwachsenen nerven. Eines Tages wacht er jedoch sehr früh am Morgen auf und ist ganz allein. Er stellt fest, er ist nicht nur allein zu Hause, sondern auch ganz allein auf der Welt.


Paul genießt die neue Situation. Er macht sich auf den Weg in die verlassene Stadt, es handelt sich eindeutig um Kopenhagen, und hat viel Spaß daran, Unmengen von sonst streng rationierten Süßigkeiten essen zu können, er besucht eine Bank und hat Beutel mit Münzen, die er aber gar nicht benutzen kann, da niemand da ist, der das Geld entgegennehmen könnten. Er wirft es in den Gully.

Es gibt niemanden, der ihm verbietet, zum Beispiel mit einer Feuerwehr, einer Straßenbahn durch die Stadt zu fahren, was er auch tut. Gerade die Exkursion mit der Tram macht ihm großen Spaß, wenn sie auch nicht sehr erfreulich endet. Eigentlich ist alles, was er tut, darauf ausgerichtet, einige Regeln zu brechen und die Freiheit zu genießen, es zu tun, ohne dass ihn jemand daran hindert.


Bei allem Vergnügen spürt er am Endes des Tages seine Einsamkeit, da er seine Eltern und vor allem seine Mutter vermisst. Dann erwacht er irgendwann aus seinem Traum und freut sich dann doch, wieder umgeben zu sein von seinen Freunden und Freundinnen, aber auch vor allem umsorgt und geliebt von seiner Mutter.

Die Geschichte geht über 44 Seiten, links immer einer der kurzen Texte von Sigsgaard, rechts die feinen, mit wenigen Strichen auskommenden farbigen Illustrationen von Ungermann. Wenn ich den Paul heute durchblättere, erinnere ich mich nach wie vor sehr intensiv, welche Faszination jedes der einzelnen Bilder auf mich als Kind ausübte. Und wenn ich sie heute ansehe, erzeugen sie beinahe die gleichen Emotionen, die mich damals überkamen. Es ist erstaunlich, welch starken Effekt so kleine, keineswegs grausame Bilder bei Kindern haben können. So erging es mir mit dem Bild des weinenden Paul, wie er gerade aus seinem Traum erwacht. Ich konnte mich nicht genug an dem Bild sattsehen, so leid tat mir mein Freund aus dem Buch. Denn auch das können Kinderbücher bei ihren kleinen Lesern erzeugen, sie werden Freunde mit den Helden.

Ein anderes Bild erzeugte so etwas wie Neid mit Paul: wie er da die Strassenbahn durch die Stadt fahren konnte. Denn eines meiner eigenen liebsten Spiele war, gerade im Winter, den großen klobigen Tisch, der in unserem Kinderzimmer stand, auf den Kopf zu stellen und dann an den in die Höhe ragenden Tischbeine mit Reißzwecken Wolldecken zu befestigen. Ich stellte einen Stuhl hinein und widmete die hölzerne Pflanzenpresse meines Bruders in den Führerstand einer Straßenbahn um: die untere Holzplatte hatte zwei metallene Drehhebel, mit denen man die untere und obere Platte zum Pressen der Blumen zusammenspannte. Diese zwei Kurbeln dienten mir als Fahr- und Bremskurbel meiner Strassenbahn - natürlich der Linie 4, die an unserem Haus vorbeifuht, sogar die Haltestelle hatte sie genau vor unserer Haustür eine Zeitlang. Die zweite Platte legte ich zu meinen Füßen, darauf hatte ich die Pedale Sandstreuer und Warnglocke gemalt und beschriftet. Natürlich hatte ich auch auf dem oberen Brett die Instrumententafel meiner "4" mit meinen Buntstiften gezeichnet.


So fuhr ich also mit "meiner" Linie 4 durch Bremen, manchmal standen auch Nachtfahrten an, dann wurde das Deckenlicht ausgeschaltet und mit der Taschenlampe die Strecke ausgeleuchtet. Manchmal lud ich meine Schwester und Spielkamerden aus der Nachbarschaft ein, die durften dann hinten in meiner Bahn Platz nehmen. Aber ich hatte auch nichts gegen Leerfahrten, da konnte ich dann den Motor ganz nach Belieben hochjagen und ihn lautstark aufheulen lassen!


Paul durfte das alles tatsächlich in "Wirklichkeit" machen. Da lag es nahe, dass ich doch ein bisschen neidisch auf ihn war. Vielleicht bin ich deswegen, mittlerweile erwachsen geworden, in den 70er Jahren Fahrer von Gelenkbussen der gleichen Bremer Nahverkehrsgesellschaft geworden und drei Jahre dieser Tätigkeit nachgegangen...

Schön, jetzt auch die neue Ausgabe aus Berlin in Händen zu haben. So wird nun der Paul aus dem 21. Jahrhundert im Regal neben meinem Paul aus den 50er Jahren des vergangenen Säkulums seinen Platz finden. Und es wird deutlich: er ist gar nicht älter geworden in den gut sechzig Jahren seit der ersten Lektüre bis zur heutigen Wiederentdeckung. So wie dieses Kinderbuch heutigen kleinen Lesern mindestens noch genau so viel Freude machen kann wie mir damals. Da bin ich mir sich sehr sicher. So der weitere Beweis: ein gutes Kinderbuch altert eigentlich nie!

 
Ich selbst an meinem siebten Geburtstag, als mir "Paul allein auf der Welt" geschenkt wurde
 

1949 entstand auch ein 25-minütiger s/w-Spielfilm auf Basis des Buches in der Regie von Astrid Henning-Jensen mit dem gleichen dänischen Titel, in Deutschland kam er 1955 zur Erstaufführung, ebenfalls in der DDR, er lief im Vertrieb der DEFA. Diesen Film habe ich bislang nie gesehen. Es gibt im Internet einen Trailer (siehe unten bei den Weblinks), den Paul/Palle spielt der Sohn der Regisseurin.




 
 

Weblinks:

 

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