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  • AutorenbildGuenter G. Rodewald

Gehört es zur Menschwerdung dazu...


... einmal die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach gehört oder womöglich sogar mitgesungen zu haben? Ich erinnere mich jedenfalls sehr gut an den 30. und 31. März 1961, einem Gründonnerstag und einem Karfreitag, ich war gute 11 Jahre alt, als der legendäre Musiklehrer unserer Schule, Paul Schönwetter, eine kleine Gruppe von stimmfesten Knabensopranen und Knabenalts aus den Reihen der Schüler der Sexta auswählte, um sie an seinen Kollegen, den seinerzeitigen Leiter des Bremer St.-Petri-Domchors, Hans Heintze, zu vermitteln. Denn der brauchte die Jungs für die zwei Knabenchöre der Eingangs- und Schlusschöre des ersten Teils der Matthäus-Passion "O Lamm Gottes unschuldig" und "O Mensch, bewein' dein Sünde gross". Wir waren alle sehr stolz, wenn solche Auftritte es auch für einige von uns nichts Neues waren, denn manche sangen bereits im Knabenchor der dem Dom benachbarten Liebfrauenkirche mit. Für manche der Schüler unserer Schule gehörte das zum frühen Einstieg in spätere bürgerliche Berufs- und/oder Politkarrieren. Doch für mich war es neu und eigentlich auch das allererste Mal, dass ich mit einem sakralen Akt dieser Art in Kontakt kam - denn darum handelt es sich bei einem solchen musikalischen Werk, trotz in diesem Fall seiner Nähe zu einer fast opernnahen Dramatik, dazu in der Umgebung einer solch großen Kirche.


Denn ich war groß geworden, ohne getauft oder später ohne konfirmiert zu werden, war also mit religiösen Ritualen gleich welcher Konfession so gut wie nie in Kontakt gekommen, insofern hatte dieser Eintritt in solch ein Bauwerk unter diesen Bedingungen schon auch einen besonderen Reiz. Nun, das erste Vorsingen, die ersten Proben fanden noch in einer vergleichsweise profanen Umgebung statt, im großen Saal des Konsul-Hackfeld-Hauses. Aber irgendwann ging es dann schon über die schmalen Stiegen hoch auf die Empore des Westchors der Bremer Kathedrale, dort dann die Proben mit dem Domchor selbst, den Musikern und dann auch schon mit dem Dirigenten, Hellmuth Schnackenburg (1902-1974).

Natürlich wurde ich dann von zu Hause noch angemessen mit einer schwarzen Hose und einem weißen Hemd mit einem ungemütlichen Schülerkragen und sogar neuen (schwarzen!) Schuhen ausgestattet, Käufe, die bei "C&A Brenninkmeyer" am Brill und bei "Salamander" in der Sögestraße getätigt wurden.


Und dann die erste Aufführung am Gründonnerstag, nach deren erstem Teil wir Knaben alle die Treppen hinunterstürzten, um auf die Eltern und Verwandten zu treffen und - natürlich! - von ihnen bewundert zu werden. In meinem Fall konnte das erst am Karfreitag erfüllt werden, weil erst am zweiten Tag der Aufführungen meine Eltern mit meiner Schwester gekommen waren. Auch die waren - denke ich - stolz auf ihren Sohn und Bruder...


Das Ganze wiederholte sich dann 1964 in ähnlicher Weise. Auch da hatte man 'Paule' Schönwetter um Hilfe gebeten, dieses Mal durch den Chordirektor des Theaters Bremen, Fritz Meyer. So kam mein nächster Knabenchorauftritt im Bremer Theater am Goetheplatz zustande, als ich in Puccinis "Turandot" von der Seitenbühne "Fern auf den Bergen im Ost" singen durfte (damals wurden italienische librettierte Opern auf den Stadttheaterbühnen noch allesamt auf Deutsch gesungen).


Und ab dann musste es die meisten der kommenden Ostern immer wieder sein: eine Passion musste gehört oder erlebt werden, und wenn es nicht die von Matthäus war, dann gerne auch die von Johannes, in jedem Fall aber von Bach, und zwar vom ollen Bach, der musste es sein!

Selbst als ich dann seit 1985 in Barcelona lebte, behielt ich diese Angewohnheit bei, ich erinnere mich an drei Matthäus-Passionen in drei aufeinander folgenden Jahren: alle wurden sie in dem traumhaften im Stil des Modernisme entworfenen Palau de la Música gegeben: die erste 1999, darüber habe ich keine Notizen, wer sie geleitet hat, aber von den beiden folgenden schon: die in 2000 dirigierte von seinem Cembalo aus Trevor Pinnock und die in 2001 Roger Norrington.


Danach gab es noch mehr, aber auch da fehlen mir die Unterlagen - zumindest in meinem historischen Familienklavierauszug (siehe oeben) steht nichts darüber. In den vergangenen Jahren erlebte ich hier in Bremen keine weitere Aufführung, die ich besuchen konnte, erst wegen meiner Krankheiten und nun wegen der Covid-19-Bedingungen. Umso dankbarer bin ich Jens Lohse, dem via den Social Media so mitteilsamen Pastor der Bremer Simon-Petrus-Kirche in Habenhausen, der am Tag nach Karfreitag per Facebook auf sein Erlebnis bei arte-TV mit den Worten hinwies: "Matthäus-Passion auf ARTE. Ich muss immer weinen, wenn ich das höre...".

Ich dankte ihm umgehend für den Tipp, hatte ich doch noch Anfang der Woche gesucht, ob der Matthäus oder der Johannes nicht doch irgendwo in Bremen gegeben würden und musste am Ende leider unverrichteter Suche aufgeben. Also habe ich mich sofort in die Mediathek des Senders eingelinkt und hörte und sah eine wunderbare Aufführung des Chors und Orchesters Pygmalion unter seinem Gründer und Dirigenten Raphaël Pichon. Sie stammte aus dem vergangenen Jahr - damals noch ohne Publikum und die Musiker mit Masken - und war während des in Aix-en-Provence stattfindenden Festival de Pâques Anfang April 2021 in der 300 Jahre alten Eglise de la Madeleine von Aix aufgezeichnet worden.


Diese Passion ist - denke ich - für alle Sänger eine sehr dankbare und gern wahrgenommene Aufgabe, hält sie doch so einzigartige Arien für jede Stimme parat, neben den Rollen der zwei Protagonisten, dem Evangelisten und dem Jesus. So muss betont werden, dass das Ensemble der Sänger, für das ein Raphaël Pichon verantwortlich zeichnet, nicht nur erstklassig aufführt, sondern auch durch seine qualitativ und sängerisch hochklassige Ausgeglichenheit hervorsticht:


Beginnen wir mit dem Sänger der Jesusworte, Stephane Degout und seinem schlanken, dennoch mächtigen und kraftvollen Bass, der auch die ans Herz gehende Arie Mache Dich mein Herze rein prächtig ausfüllt. Lucile Richardot, ein warmer, offenherziger Alt, die zwei der Höhepunkte der Passion mit musikalischer Inbrunst darbietet, die Arien Buss' und Reu' und Ach Golgatha. Die Sopranistinnen Hana Blažiková und Sabine Devieilhe glänzen mit Ich will Dir mein Herze schenken, respektive mit Blute nur, du liebes Herz. Tim Mead, ein superber Contraalt mit Erbarm' es Gott - Können Thränen meiner Wangen. Ebenso demonstrieren die beiden Tenöre Reinoud van Mechelen und Emiliano González Toro hohe Qualität in Diktion und Musikalität in ihrem Vortrag von Ich will bei meinem Jesus wachen und Mein Jesus schweigt - Geduld! wenn mich falsche Zungen. Und last but not least gehört Christian Immler (Bass-Bariton) erwähnt - so glaubwürdig und durchdringend vorgebracht wie es die in der Arie enthaltene Forderung verlangt sein Gebt mir meinen Jesum wieder singt und erschütternd sein Der Heiland fällt - Gerne will ich mich bequemen.


Der unbestrittene Star allerdings der Tenor Julian Prégardien in der Partie, nein, er spielte regelrecht die Rolle des Evangelisten. Sowieso für jeden lyrischen Sänger dieser Tonlage ein extrem dankbarer Part, steht er doch als Erzähler die gesamte Passion im Mittelpunkt des Geschehens. Prégardien (*1984 in Frankfurt) berichtet mit ungewöhnlichem Engagement, nahezu ein authentischer Evangelist, mit tiefer Betroffenheit über die Geschehnisse um den Prozess, den Verrat , die Verurteilung und die Hinrichtung und den Tod des Jesus von Nazareth, verfällt dabei jedoch nie in Übertreibungen. Bisweilen erreicht er, dass es einem kalt den Rücken herunterläuft. So ist unübertrefflich die Szene um die letzten Momente des Gekreuzigten ("Rezitativ "Und von der sechsten Stunde an ward eine Finsterniss über das ganze Land..." mit dem anschließenden Choral "Wenn ich einmal soll scheiden..."). Sehen und hören Sie selbst:

Alles das findet statt unter dem lebhaften, vitalen, von keinerlei Allüren bestimmten Dirigat von Raphaël Pichon mit den exquisiten Solisten des Pygmalion. Es bedarf wohl heutzutage keinerlei Erwähnung, aber gespielt wird ausschließlich auf historischen Instrumenten, besonders beeindruckt hat mich die Viola da Gamba und sein Meister Julien Léonard, in seinem Disput mit den sieben Saiten dieses Instruments.


Pichon (*1984 Paris) hat seine musikalische Laufbahn in dem Kinderchor Petits Chanteurs von Versailles (hat da sicherlich auch schon die Matthäus-Passion gesungen...). Später ließ er sich zum Countertenor ausbilden und trat mit großen Erfolgen unter bedeutenden Dirigenten auf. 2006, mit nur etwas mehr als zwanzig Jahren schuf er dann das Ensemble Pygmalion. Ein begnadenswerter Musiker, obendrein ein attraktiver Mann mit wunderschönen Händen, die geradezu zum Dirigieren geschaffen worden zu sein scheinen.


Die Chöre, aber klar: zweimal betritt der Chor Maîtrise de Radio France die Szene, um die meist von Knaben gesungenen Chöre zum Ein- und Ausgang des Ersten Teils zu singen. Der Chor Pygmalion umrahmt nicht nur szenisch die Aufführung, sondern auch musikalisch eindrucks- und kraftvoll mit "nur" insgesamt sechzehn Sängerinnen und Sängern die Passionsmusik, sowohl in den Chorälen wie in den Dialogen, mit ganz leisen Tönen und mit manchen Fortissimos, die andere Chöre mit wesentlich höheren Belegschaften nicht erreichen. Schönes Detail: aus dem Chor treten immer wieder die Solisten nach vorne, um ihre Arien zu singen, und treten danach wieder in die Gruppe zurück. Nur der Evangelist behält seine privilegierte Position inmitten des Szenariums, bevor er sich zum Schlusschor Wir setzen uns mit Thränen nieder dann auch in die Schar des gesamten Gesangsensembles einreiht.


Sei zum Schluss die außergewöhliche und spannend geführte, dramatisch aufgebaute Regie (Isabelle Julien) und die sensible Kameraarbeit (Benoit Feller) der Produktion hervorgehoben, die einen entscheidenden Anteil daran hat, dass neben dem hohen akustischen Genuss ebenfalls ein optisches Erlebnis dargeboten wird.

 

PS.: arte zeigt außerdem drei weitere Produktionen des Pygmalion unter Pichon und mit einigen der Solisten aus der Passion und mit Musik von J.S. Bach, seinem Sohn Carl Philipp Emanuel und Michael Praetorius mit dem Titel Christus, trilogie sacré (Teil I: Nativité; Teil II: Passion; Teil III: Résurrection, Ascension) - alle Videos sind noch verfügbar bis zum 23. August 2024!

 

Weblinks:

 

Wenn Du willst, kannst Du mir gerne Deinen Kommentar schicken, und zwar an diese Mail-Adresse: blog.guenny@mercadodelibros.info - Ich freue mich über jede Reaktion.







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