top of page
AutorenbildGuenter G. Rodewald

Jetzt einer der vielen sein zu dürfen...

Aktualisiert: 22. Dez. 2023


... die sich zu den Gewinnern des Alfred-Döblin-Preises rechnen zu dürfen, muss dem diesjährigen Preisträger mindestens so sehr gefallen haben wie wohl den seit 1969 neunundzwanzig Preis- und Förderpreisträgern vor ihm, unter ihnen so illustre Autor:innen Namen wie Saša Stanišić, Peter Kurzeck, Ingo Schulze, Edgar Hilsenrath oder Natascha Wodin [1]. Ermittelt wurde der diesjährige Gewinner am 6. Mai 2023 bei der Lesung aus ihren Texten der sechs von der Jury ausgesuchten Finalisten aus den 600 (!) Bewerbungen, und am Ende the winner was Jan Kuhlbrodt mit seinem Text KRÜPPELPASSION oder VOM GEHEN, der heute am 2. Oktober 2023 im Verlag mit der Gans [2] erschienen ist!

Der von Günter Grass 1969 gestiftete Preis wird alle zwei Jahre von der Akademie der Künste (AdK) und dem Literarischen Colloquium Berlin (LCB) an Autoren oder Autorinnen vergeben, deren Manuskripte noch unveröffentlicht (und ungesetzt!) sind. Das Preisgeld beläuft sich aktuell auf € 15.000,-.


Lassen wir hier mit allerfreudigstem Genuss noch einmal die Jury ihr Urteil aussprechen:

„Jan Kuhlbrodt hat mit Krüppeltext oder Vom Gehen eine vielschichtige Prosa geschrieben, die sich mit großer Unerschrockenheit, erstaunlicher Komik und theoretischem Witz der eigenen MS-Erkrankung stellt. Was ihm inzwischen am schwersten fällt, das Gehen, wird dabei zum Leitmotiv eines erfahrungssatten szenischen Panoramas. Darin verarbeitet er Erinnerungen, Reflexionen und Selbstbeobachtung und spannt eine Linie vom Hohelied über Sören Kierkegaard bis hin zu Antonio Gramsci. Die papierene Welt der Bücher wird ihm zur Gegenlandschaft, in der die Utopie einer Welt ohne Gravitation aufscheint. Verzweiflung und ein feines Gespür für sinnliche und sprachliche Nuancen werden immer wieder kunstvoll ins Gleichgewicht gebracht.“


Der Autor und sein Buch

Jan Kuhlbrodt wurde 1966 in Karl-Marx-Stadt / Chemnitz geboren, studierte zunächst Politische Öko­nomie in Leipzig, dann Philo­sophie in Frankfurt am Main und absolvierte ein weiteres Studium am Deutschen Literaturinstitut. Zwischenzeitlich arbeitete er als Lehrer in einem Projekt für straffällig gewordene Jugendliche und als Antiquar. Ehema­liger EDIT-Herausgeber der Literaturzeitschrift, lebt er heute in Leipzig als Autor, Redakteur und Dozent.


Krüppelpassion oder Vom Gehen ist Jan Kuhlbrodts drittes Werk, das im Gans Verlag erscheint. Davor waren es Das Land und ich werden. Texte und Zeichnungen, Zeichnungen von Petrus Akkordeon (Herbst 2022) und Schrift unter Tage. Essays und Kolumnen (Frühjahr 2023).

Vom Gehen - Durch Distanz Nähe erzeugen


Fangen wir mit dem zweiten Teil des Titels des Romans an: wer weiß besser vom Gehen zu erzählen als der, der es nicht mehr kann. Kuhlbrodt sitzt im Rollstuhl. Er leidet an der progressiven Krankheit der Multiplen Sklerose. Ich kann da in kleinen Ansätzen, wirklich nur in ganz kleinen, mitfühlen, denn meine Behinderung ist nicht in dem galoppierenden Rhythmus fortschreitend, wie sich eine MS gebärden kann. Wenn meine Polyneuropathie es überhaupt darauf anlegen sollte, ihren Wirt zu drangsalieren, macht sie das bislang in kaum spürbaren Schritten. Aber was es heißt, nicht mehr richtig laufen zu können, nicht mehr rennen, nicht mehr bummeln, keinen Tritt, geschweige denn keine Leiter mehr besteigen zu können, davon "verstehe" ich was. Davon schreibt Kuhlbrodt in diesem Buch, mit bewundernswerter Distanz, die er durch seine Ironie, seinen bisweilen schwarzen Humor und wiederum durch seine manchen sicher erschreckende Direktheit erreicht. Das genau ist einer der Gründe, warum ich dieses Buch liebe, und den Autor wegen seiner Offenheit, seiner distanzierende Distanzlosigkeit und Schamlosigkeit obendrein.


Es ist so wohltuend, denn es ist kein weiteres Buch aus der "Betroffenen-Buch-Abteilung" (davon stehen die mehrgeschossigen Buchhandlungen voll). Aber betroffen machen eben genau diese Texte beim Lesen doch, auch wenn sie einen bisweilen foppen, weil sie vom Witz des Autors ernährt sind und davon leben. Und schon erträgt man das Beschreiben der Behinderung besser, wohl vielleicht sowohl als Außenstehender, aber sicher als Betroffener.


Ich, Krüppel


Es hat schon immer seinen Sinn gehabt, mit einem Schimpfwort, mit dem diskriminierenden Ausdruck eine die Gesellschaft in Teilen störende Eigenschaft zu belegen. Wie wichtig und entscheidend war es damals, als wir das Wort "schwul" mit Stolz in Umlauf brachten, um freier leben zu können. Bis hin zu Regierenden Bürgermeistern von Regierungsmetropolen haben es dann sogar in ihren öffentlichen Mund genommen. Ich benenne meine KFZ-Fahrlizenz, deren durch meine physischen Einschränkungen notwendig gewordene Umwidmung, die mit viel Aufwand und hohen Kosten, ohne Garantie auf Erfolg, verbunden war, auch mit dem Ausdruck "Krüppel-Führerschein" zu belegen, und ernte damit manches Stocken bei meinen Zuhörern. Ach ja, kann ich noch ergänzen: mein Arzt muss alle zwei Jahre der bremischen Führerscheinbehörde und mir attestieren, dass er mir weiterhin das Führen eines motorangetrieben Kraftfahrzeugs meint zutrauen zu können. Das nur als kleines weiteres Detail zum Thema Diskriminierung.


Zurück zum Gewinner des ADP 2023


Das Buch - angenehm und entspannt zu lesen durch seine Gestaltung in der gepflegten Garamond (man spürt den professionellen Verleger!) - vereint auf seinen 240 Seiten kurze bis kürzeste, manchmal etwas längere, jedoch nie lange Stücke, in bester Tradition von Texten von Lichtenberg, Tucholsky, Robert Walser, Ror Wolf, dem Polen Stanisław Jerzy Lec, dem Spanier Ruben Abella (leider noch nicht ins Deutsche übersetzt), oder Klaus Johannes Thies. Und gibt es doch inmitten der kurzen Stücke und manchen Gedichten eine schon fast längere Erzählung - aber eben doch nur eine von sechs Seiten - , die erschüttert: es ist gleich die allererste des Buches, heißt dann auch noch (un)passenderweise "Gehen", obwohl sie vom Gegenteil erzählt, also davon, es nicht mehr zu können.


Dort steht geschrieben, wie es eben auch der Mutter des Erzählers (natürlich ist dies Kuhlbrodt selbst) widerfahren ist, dass sie die gleiche Krankheit wie er erlitten hat, mehr, sie ihm vererbt hat. Er schildert seinen letzten Besuch bei ihr, ihre allerletzten Lebensmomente: "Wie meine Mutter, so werde auch ich einmal liegen."


Und das vorletzte Stück in dem preisgekrönten Buch nennt sich Symptome, bildet gewissermaßen den Schlusschor dieser Kuhlbrodtschen Passion, bei der man im wahrsten Sinne und in Gedenken eines anderen, aber musikalischen Passions-Schöpfers singen könnte "Wir setzen uns mit Tränen nieder". In dieser story lässt der Autor uns an seiner Erfahrung teilhaben, wie er sich für sein Philosophiestudium in Frankfurt am Main sein Geld verdient, indem er einen ebenfalls an MS erkrankten Antiquar pflegt und ihn bis in dessen Tod begleitet. Der letzte Satz hier und fast auch des ganzen Buches: "Wir sind alle Sterbebegleiter, und keiner wird der Letzte sein, der stirbt."


Aber als ein Schlussakkord erklingt noch auf der allerletzten Seite ein Ruf, wem wir da hinterher gerufen? Dem Autor? Dem Leser? Oder ist es ein Schrei? Ja, ich glaube. Jedenfalls ruft da jemand sehr laut:


Doch, ich liebe dieses Buch.


Für den Deutschen Buchpreis 2022 ist es zu knapp, aber für den Preis der Leipziger Buchmesse 2023 sollte der Verlag Jan Kuhlbrodts Roman präsentieren, denn er erfüllt mit seinem Publikationsdatum von Oktober 2023 eine der grundlegenden formalen Bedingungen dieses attraktiven Preises. Einen Platz auf der Longlist, ach was, auf der Shortlist sollte man ihm verschaffen, nein, er verdiente sich sogar den ersten Platz. Denn Kuhlbrodts Roman unterliegt so angenehm wie erfrischend keinem irgendwie gerateten Mainstream. Der Autor und sein widerborstiges Werk würden gut einen solchen weiteren Preis verdienen… Meine Stimme hätten beide - Autor und Werk - die für Platz 1!

 

[2]) Richtig heißt er Gans Verlag, ich mag Verlage, die sich mit einem Tier vorstellen, wie der legendäre Verlag mit der Fliege (Eichborn), in Spanien gibt es eine Editora Riconeronte, oder der Arche Verlag von Elisabeth Raabe und Regina Vitali, da hinein passten nunmehr alle Tiere, sogar in doppelter Anzahl…

Jedoch heißt der Gans Verlag gar nicht aus zoologischen Gründern Gans, sondern wurde 2016 von Ulrich Leinz gegründet. Mit seinem Namen will er an den Juristen Eduard Gans (1797 - 1839) erinnern, dieser war Mitbe-gründer des Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden. Er wurde im Jahr 1826 – erst nachdem er vom Judentum zum Protestantismus konvertiert war – zunächst an der Berliner Universität Professor und 1832 Dekan der juristischen Fakultät. Eduard Gans war ein entschiedener Gegner des konservativen Staatsrechtlers Friedrich Carl von Savigny und gilt heute als Begründer der vergleichenden Rechtswissenschaften. Bekannt ist er vor allem als Herausgeber von Georg Wilhelm Friedrich Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts und der Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Sein Hauptwerk Das Erbrecht in weltgeschichtlicher Entwicklung, das in den Jahren 1824 bis 1835 in vier Bänden erschien, blieb unvollendet. Als Professor gelang es Eduard Gans komplexe Gedanken am konkreten Tagesgeschehen lebendig werden zu lassen. Diesem Vorgehen fühlt sich der Gans Verlag bei seinen Büchern verpflichtet. Und man kann schon jetzt gespannt sein, wie das kommende Programm gestaltet sein wird, von einer Sache hat man schon läuten hören, eine Lektüre ganz ohne Eintrittskarte.


Die Gans als Verlagsvignette wurde von Özgür Erkök-Moroder gestaltet. Das Vorbild findet sich auf den Grabsteinen der Vorfahren Eduard Gans‘, die auf dem jüdischen Friedhof in Celle begraben sind.


 

Weblinks:


 

Reaktionen:

  • »Ganz herzlichen Dank – das ist die erste Rezension, die mich erreicht und gleich so positiv! Ich freue mich sehr – und schließe mich Deinem Wunsch an: Preis der Leipziger Buchmesse. Wir halten die Daumen gedrückt. Danke für deine tolle Besprechung und herzliche Grüße nach Bremen!« - Birgit Böllinger, Büro für Text und Literatur · Augsburg

 


Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Yorumlar


bottom of page