Als eine der drei Nominierungen des Deutschen Hörbuchpreises 2019 in der Kategorie Bestes Sachhörbuch figuriert „Wir sind dann wohl die Angehörigen. Die Geschichte einer Entführung“ von Johann Scheerer, produziert ist es von tacheles! / ROOF Music. Würde der Preis auch eine Kategorie "Bestes Literaturhörbuch" ausloben, könnte Scheerers Werk mit dem gleichen Recht genauso gut unter eine solche Rubrik fallen.
Und den gleichen Anspruch hätte Scheerers Audiobook, um für die Kategorie Bester Interpret nominiert worden zu sein. Denn der junge Autor liest sein eigenes Buch mit seiner sonoren und professionellen Stimme, als täte er normalerweise nichts anderes als Hörbücher einzulesen. Das hat sicher seinen Zusammenhang, wenn man weiß, dass Scheerer in Hamburg-Rothenburgsort das international hoch renommierte Tonstudio Clouds Hill betreibt, also den Umgang mit dem Mikrofon, davor und dahinter, meisterhaft beherrscht.
Fast bescheiden und diskret stellt er sich hinter seinen eigenen Text zurück und vermag es dennoch, die erschütternde und Schauer erzeugende Erzählung dieser Entführung fesselnd und packend vorzutragen.
Scheerer hat sein Erlebnis dieser traumatischen 33 Tage, während derer sich sein Vater Jan Philipp Reemtsma in der Gewalt von brutalen Entführern befand, aus seiner Perspektive des damals erst dreizehnjährigen Buben geschrieben. Das ist ihm schon im Buch grossartig gelungen und jetzt ebenso bei seiner Lesung, denn immer bleibt die Geschichte, die er zu erzählen hat, zutiefst glaubwürdig, sie klingt nie gekünstelt, aufgesetzt oder womöglich sensationalistisch.
Während ich vor einigen Wochen das Buch las und jetzt, wo ich mir das Audiobook anhöre, habe ich auch parallel die Schilderung im Ohr, die damals Reemtsma selbst über seine Gefangenschaft in einem Kellerverlies irgendwo in der Garlstedter Heide in der Nähe von Bremen (übrigens nur etwa 19 Autokilometer von dem Schreibtisch entfernt, an dem ich jetzt an dieser Rezension schreibe...) geschrieben hatte. Das Buch war ganz kurz nach seiner Freilassung in der Hamburger Edition 1997 erschienen, mit einem mehrteiligen Vorabdruck im SPIEGEL.
(Damals konnte ich sogar - ich arbeitete bis 2016 als Literaturagent in Spanien - die spanischen, portugiesischen und brasilianischen Lizenzrechte von Im Keller vermitteln und durfte die eindrucksvolle Persönlichkeit von Jan Philipp Reemtsma kennenlernen, als ich ihm bei seinem Besuch in Barcelona die Stadt zeigen konnte - im Gefolge hinter uns immer ein Personenschützer.)
Seinerzeit begegnete man in Reemtsmas fast nüchternem, darum aber umso schaurigem Protokoll seiner Geiselnahme bereits seiner Familie: seiner Frau Ann-Kathrin Scheerer und seinem damals eben erst dreizehnjährigen Sohn. Sie wurden erwähnt, aber kamen in Reemtsmas Erinnerungen selbst nicht zu Wort. Um so mehr erschüttert es jetzt, Johann selbst zu vernehmen, wie er nahezu zeitnah, mit kaum erkennbarer zeitlicher Distanz das Erleben schildert. Kaum jemand, wenn er denn eine solche Erfahrung nicht machen musste, hätte sich sicherlich eine solch detaillierte Erinnerung an Geschehnisse in diesem Alter bewahren können.
Mit großem Respekt hört man dem Jungen zu, wie er mit beeindruckender Sensibiltät diese Schreckenstage schildert, seine Einsamkeit als junger Mensch, obwohl er sie sehr eng an der Seite seiner Mutter erlebt, die sich aber höchstwahrscheinlich in einer sehr ähnlichen Verlassenheit gefühlt haben muss, und der mitten in seiner Pubertät steckte. Und dabei immer bestimmt von der Furcht, seinen Vater nie wiedersehen zu können, zumindest nicht mit Leben. Darauf schien es ihm die ganze Zeit der Geiselnahme hinauszulaufen, dass er ihm wohl kaum jemals noch wieder lebend begegnen würde. Denn, so schien es ihm, gingen denn Entführungen dieser Größenordnung jemals anders aus?
Zu hören, wie Johann sein Verhältnis zu seinem Vater durch und nach der Entführung ändern und es sich in kleinen Stücken entspannen konnte, ist ein attraktiver Nebenstrang in der Geschichte. Eine Beziehung, die vielleicht schon durch des Vaters hohe und mächtige physische Erscheinung, aber erst recht durch seinen durch und durch präsenten Intellekt und seine extreme Bildung den Sohn - und sicher ohne es zu wollen - einschüchtern konnte. Schön die Anekdote, als Johann, während seine Mutter ihm am frühen Morgen nach der Entführung beizubringen versucht, was mit seinem Vater in der Nacht passiert sei, ihm als erstes durch den Kopf schiesst, wie die beiden am Tag vorher noch verzweifelt für die am Tage vorgesehene Lateinklassenarbeit gepaukt haben,und er sich dabei erwischt, sich darüber zu freuen, dass er heute wohl wegen der Ereignisse nicht in die Schule gehen muss, er sich vor der gefürchteten Prüfung drücken kann.
Scheerers Buch zu lesen oder ihm jetzt eben auch zuzuhören ist ebenso ein literarisches Vergnügen. Vielleicht stand ihm auch ein guter Lektor zur Seite, das wäre mehr als sein gutes Recht, immerhin ist dieses in keiner Weise leichte Buch sein Debüt!
Man eckt an keiner Stelle seines Textes an, hört ihm jetzt auch seiner Stimme mit ausnehmender Hochachtung zu, fühlt sich durch die genauen und sensiblen Beschreibungen fast anwesend, wie die Familie und engen Freunde den 33-tägigen Ausnahmezustand erleben mussten, meist umlagert von den Beamten der Sonderkommission mit ihren skrurrilen Tarnnamen, die zeitweise mit im Hause der Familie lebten, beim Wiedersehen mit dem Vaters, respektive Ehemann, in den schwierigen Situationen, die es auch gerade nach der Entführung und der Freilassung, nach der Zahlung von dreißig Millionen D-Mark Lösegeld, galt zu bewältigen.
Diese Familie hatte sich radikal verändert in diesen wenigen Tagen, von der Sekunde an, als der Vater sich von seiner Familie für eine seiner abendlichen Studien in das Hinterhaus verabschiedet hatte und er erst einen guten Monat später wieder nach Hause zurückkehrte. Sie hatte eine Lebenslage bestehen müssen, die sie sich niemals vorher ernsthaft hat vorstellen können oder wollen.
Keiner der drei, nicht der Vater, nicht die Mutter, nicht der Sohn waren noch die gleichen, nachdem der Alptraum vorüber war, erst recht eben nicht Johann, der in diesen 33 Tagen von einem Jungen zu einem Erwachsenen geworden war. Das alles läßt Scheerer uns miterleben. Aber es gelingt ihm auch, den Leser und jetzt den Zuhörer sich darüber freuen zu lassen, dass alles überstanden werden konnte.
Was es aber sicher für die drei am engsten Beteiligten wohl nie sein kann, denn danach folgten die langen Justizprozesse gegen die Entführer, die permanente, bedrängenede Berichterstattung in allen Medien (bei der Eingabe der entsprechenden Stichwörter springt die Suchmaschine von Google mehrere tausend Male an). Der Haupttäter Thomas Drache ist seit einiger Zeit wieder auf freiem Fuß, frühzeitig aus der 14-jährigen Haft entlassen. Auch das konnte wohl nichts anderes bewirken, als alles wieder aufzuwühlen.
Aber jetzt freut man sich schon auf Johann Scheerers nächste Publikation, literarische natürlich, denn ansonsten ist er ja bereits ein äusserst und seit vielen Jahren erfolgreicher Musikproduzent - was immer er auch zu Papier bringen wird. Also die dringende Bitte an den Debütanten: weiterschreiben! Denn der junge Autor hat bewiesen, dass er in der Tat sehr gut schreiben kann (und vorlesen!).
Die Bekanntgabe der Preisträger des Hörbuchpreises erfolgt Anfang bis Mitte Februar 2019, die Verleihung der Preise findet am 19. März 2019 im WDR Funkhaus am Kölner Wallrafplatz statt. Wie in den Vorjahren eröffnet die Preisverleihung das internationale Literaturfest lit.COLOGNE.
Johann Scheerer: Wir sind dann wohl die Angehörigen. Die Geschichte einer Entführung, Ungekürzte Autorenlesung, ROOF Music, tacheles!, 2018 - 5 CDs + 1 Booklet - 344' - € 20,00 - ISBN 978-3-86484-474-4 (auch als MP3-Download lieferbar)
Johann Scheerer: Wir sind dann wohl die Angehörigen. Die Geschichte einer Entführung, Piper, 2018 - Gebundene Ausgabe - 235 Seiten - € 20,00 - ISBN 978-3-492-05909-1 (auch als e-book lieferbar)
Jan Philipp Reemtsma; Im Keller, Hamburger Edition, 1997 - Gebundene Ausgabe - 222 Seiten - € 16,00 - ISBN 978-3-930908-29-5 (auch als Taschenbuch bei Rowohlt erschienen)
Hier kann man die Ausgaben direkt beim lokalen Buchhändler ordern: Link.
In den Kammerspielen Hamburg ist eine Bühnenfassung von Wir sind dann wohl die Angehörigen geplant, vorgesehen für das Frühjahr 2019, in der Regie von Intendant Axel Schneider: Link
Weblinks:
Deutscher Hörbuchpreis: https://www.deutscher-hoerbuchpreis.de
Studio Cloud Hills | Johann Scheerer: https://cloudshillrecordings.com
Hörspiel NDR basierend auf IM KELLER von J.P. Reemtsma: https://bit.ly/2TN12Qh
DER SPIEGEL | Ausgabe 9/2018: https://bit.ly/2TK1izC
taz | Interview: https://www.taz.de/!5497354/
Wenn Du magst, kannst Du mir gerne Deinen Kommentar schicken, und zwar an diese Mail-Adresse: blog.guenny@mercadodelibros.info - Ich freue mich über jede Reaktion.
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