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  • AutorenbildGuenter G. Rodewald

Kennst Du den?

Aktualisiert: 25. Okt. 2020


Nein, ich kannte ihn nicht, hatte noch nie von ihm gehört. Klaus Johannes Thies? Er jedoch wusste von mir, denn er brauchte einen Rat in einer Sache und erwartete ihn von mir, weil er gehört hatte, ich sei Literaturagent. Nun, die Empfehlung kam durch einen sehr guten Freund, und der hätte er mir schon keine Nervensäge an den Hals gehetzt. Und trotz des Ruhestands habe ich noch nicht alle meine Erfahrungen und Kenntnisse, die ich in meinen Berufsjahren habe ansammeln können, verloren, verdrängt oder vergessen. Also konnte ich riskieren, mich auf einen Café mit dem Autor zu treffen. Und man fand sich auf Anhieb sympathisch. Gerne also gab ich den erwünschten Rat und vielleicht noch einen halben dazu. Und mittlerweile hat man das Gefühl, man kennt sich schon ewig. Ich traue mich, anzunehmen, Klaus empfindet es ähnlich.


Was man in den langen Jahren als literarischer Agent lernt, was man gelernt haben sollte, ist, eigentlich schon bei der ersten Begegnung mit einem Autor und ohne auch nur ein geschriebenes Wort von ihm gelesen zu haben, einschätzen zu können, wie ernsthaft oder publizierbar das sein könnte, was er an Texten präsentiert. Ich hatte das unschätzbare Glück, dass ich meinen Beruf von einer großen Meisterin ihres Fachs, Ute Körner (1939-2008), erlernen durfte. Sie hatte dieses spontane Urteilsvermögen in ihren Genen. Ein kleines bisschen hat sie mir davon - scheint es mir - vererbt.


So hatte ich keine Zweifel, als K.J. Thies und ich uns kennenlernten, dass dieser Mann was "Ordentliches" schreibt, wie der Norddeutsche sich gerne ausdrückt. Und natürlich spricht auch die Biografie eines Menschen für seine menschlichen und beruflichen Qualitäten: K.J. Thies war lange Kulturredakteur bei Radio Bremen, ist Autor von vielen literarischen Essays, von Hörspielen und Beiträgen in den einschlägigen deutschsprachigen Literaturzeitschriften. Also Vorschusslorbeeren genug. Inzwischen kenne ich seine "Unsichtbaren Übungen", eine Sammlung von "123 Phantasien", wie Thies seine kurzen Prosatexte tauft. Mittlerweile hat sich für diese literarische Gattung der Terminus Flash/Sudden/Fast Fiction etabliert. Auch der spanische Begriff Microrrelato hinterleuchtet diese Spezies anschaulich: kurze, nur selten aus mehr als hundertfünfzig bis zweihundert Worten bestehende Erzählungen. Die aber in ihrer Kürze ganze Geschichten in der Lage sind zu erzählen. Keine Bonmots oder Aphorismen, nein, immer eigenständige stories.


Thies beherrscht dieses Genre in Perfektion. Das wurde mir schon klar, nachdem ich die "Übungen" als erste Lektüre genießen konnte. Hier hatten sich noch ein paar wenige Gedichte zwischen die Prosa geschmuggelt. Die findet man in Thies' neuestem Band mit 111 Shorts nicht mehr, sein Titel: "Tango ohne Argentinien". Diese Sammlung ist gerade eben bei edition AZUR erschienen, und aus einem noch druckfeuchten Exemplar las der Autor am vergangenen Freitag im Rahmen des Bremer-Ein-Tages-Festival Bremen liest!, das dieses Jahr schon zum vierten Mal stattfand. Unter den momentanen gegebenen virösen Umständen leider in nur kleinem Rahmen, aber liebevoll betreut von der ältesten Bremer Buchhandlung, der von dem Neffen Theodor Storms 1897 gegründeten und heute von der rührigen und engagierten Alexandra Rempe und ihrem Team geleiteten Buchhandlung Storm.


Vorgelesen bekommen die Geschichten noch ein weiteres Stück mehr an Leben, man hört den ironischen, bisweilen skurrilen, ebenso ernsthaften, zeitweilig melancholischen, temporeichen wie wohl auch langsamen Stücken mit Vergnügen zu. Es macht viel Spaß, ihnen vorgelesen zuzuhören, aber sie eben auch selbst zu lesen. Das sind Bücher, die man gern mit sich herumträgt und in denen man in einem Café blättert, oder sie auf Reisen aus dem Gepäck zieht, es ist ein Buch, das sich ganz häuslich und traditionell einen geselligen Platz auf dem Nachtschrank verdient.


Der Ausgabe von "Tango ohne Argentinien" ist ein Nachwort von Thies' Schriftstellerkollegen Mirko Bonné angehängt, das die Edition, wenn nicht sogar ihren Autor, gewissermaßen krönt. Viel besser kann man ihn und sein Werk kaum würdigen, darum ziehe ich mich bescheiden hinter Herrn Bonné zurück und biete seinen Text am Ende dieses Beitrags zum Download (und Lesen!) an.

Mittlerweile habe ich auch schon einige Geschichten aus Thies' "Aus meinem Fenster" lesen können, das leider vergriffen ist (edition AZUR: bitte nachdrucken!). Diese Texte sind noch ein wenig länger als die im "Tango" oder in den "Übungen". Es sind Blicke aus dem Küchenfenster seiner Bremer Wohnung und beschreiben Beobachtungen auf einen ganz banalen städtischen Parkplatz vor seiner Haustür. Mit der Zeit werden seine regelmäßigen Benutzer zu Bekannten, die teilweise sich wiederholenden Ereignisse regen die Phantasie des Autors an, welche Biographien wohl auf die beobachteten Menschen passen könnten. Man lehnt sich beim Lesen Seite an Seite mit dem Autor auf die Fensterbank und schaut dem Geschehen unten zu, amüsiert oder besorgt oder verstört.


Dem Buch sind im Vor- und Nachspann zunächst belanglos erscheinende Schwarz-Weiß-Fotos vor- und hintan gestellt. Mit ihnen kann man weiterspinnen, die Texte gäben für einen, ebenso in s/w gedrehten, Film einen guten Hintergrund ab (Jim Jarmusch...?) oder für ein Hörspiel.

Aber zusammen mit allen Thies-Lesern kann ich mich jetzt schon auf seine kommende Publikation freuen. Sie wird in ihren großen Teilen auf das Jahr 2018 zurückgehen, als der Autor zu einem dreimonatigen Stipendium im Studienzentrum Venedig eingeladen war. Selbst wenn man Venedig aus eigenen Besuchen nicht kennt (wie leider ich), bedarf es keiner großen Phantasie, um sich vorstellen zu können, wie viele Ausblicke diese Stadt mit ihren Plätzen, Gassen und Kanälen bietet, die Thies in neue Shorts packen wird. Im November 2019 hat der Autor schon Teile dieser neuen Sammlung in einer anderen Lesung in der Buchhandlung Storm vorgetragen. Leider kannte ich ihn da aber ja noch nicht (siehe oben).


Wenn wir schon von zukünftigen Thies-Ausgaben reden, warum publiziert die edition AZUR - zusammen mit einem der bekannten Audio-Anstalten des Landes - nicht ein Audiobook mit Texten von K.J. Thies, natürlich von ihm selbst gelesen? Dass er das kann, hat er zumindest mir, aber offensichtlich auch dem munter applaudierenden Publikum am vergangenen Freitag bewiesen.


Als ein besonderes, persönliches Präsent empfand ich Thies' letzte Zugabe an seinem Leseabend, den Short mit dem Titel "Ich bin der Busfahrer". Ich glaube, es könnte sich um die möglicherweise einzige literarische Würdigung in deutscher Sprache eines verkannten Berufsstandes handeln. Ich wüsste es wahrscheinlich, wenn es anders wäre, denn immerhin habe ich in den 70er Jahren drei Jahre lang als literarisch vorgebildeter Busfahrer 16,5 Meter lange MAN-Gelenkbusse der BSAG durch Bremen chauffiert. Zum Dank an Klaus Johannes Thies, sein und seines Verlegers Einverständnis voraussetzend, drucke ich dieses Prosastück hier gerne ab, gewissermaßen als meine Zugabe zu diesem BLOG-Artikel (garniert mit meinem Konterfei aus jenen Jahren):

 

Ich bin der Busfahrer


Virginia Woolf dachte über das Spazierengehen nach. Ich denke eher an Busfahrer, die an der Endstation herumstehen und rauchen. Daran und an dies und das denkend, manchmal auch im Konjunktiv mit Rösti, Rührei und mit Pfifferlingen unterfüttert.

Ich bin froh darüber, dass ich mir nicht ins eigene Gesicht sehen kann, sozusagen in das Alter, während ich an einem Text arbeite, in dem es um mich als Jüngling geht. Bewegt sich da was? Eine Falte? Oder sieht es starr geradeaus wie ein Busfahrer von einer Haltestelle zur nächsten unterwegs, oder zwischen einer Haltestelle und der nächsten wartend, bis der Letzte eingestiegen ist - dieser routinierte Blick ins Nichts. Oder ist da was zwischen den Zähnen hängengeblieben? Ein Zahnstocher wäre nicht schlecht. An der Endstation dann wieder eine Zigarette rauchen zur Entspannung. Ich bin Busfahrer, werde ich sagen. Denn eines Tages wird man doch vergessen haben, wer ich war.

 

Klaus Johannes Thies, geboren 1950 in Wuppertal, ist als freier Mitarbeiter bei Radio Bremen tätig und schreibt Prosaminiaturen und Hörspiele. Veröffentlichungen u. a. in „Manuskripte“ und „Akzente“ sowie Einzelbände u. a. bei Achilla Presse und Reclam. 2015 erschien „Unsichtbare Übungen. 123 Phantasien“, 2018 der Band „Aus meinem Fenster. Parkplatz-Rhapsodien“ und 2020 der Band „Tango ohne Argentinien, 111 Shorts“ (alle bei edition AZUR).


 
 

Weblinks:

Nachwort | Tango | Mirko Bonné: Download

Iris Hetscher im WK über "Tango ohne Argentinien": https://bit.ly/3mi9p4A

Download | Kritik SZ | Übungen: https://bit.ly/2DGmqo0

Link | Interview Radio Bremen: https://bit.ly/325qbMX

 

Wenn Du willst, kannst Du mir gerne Deinen Kommentar schicken, und zwar an diese Mail-Adresse: blog.guenny@mercadodelibros.info.

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