Im Sommer 2018 – ich war nach zwei heftigen Erkrankungen wieder gut erholt – erweckte ein Artikel in der örtlichen Presse meine Aufmerksamkeit, man suche händeringend nach Schöffen für die Bremer Gerichte. Ich dachte, das könnte eine Aufgabe für mich werden, denn ich hatte schon länger daran gedacht, mich auf irgendeine Weise ehrenamtlich nützlich zu machen. So bewarb ich mich und irgendwann gegen Ende des Jahres teilte man mir mit, dass man mich auf die Liste der Hilfsschöffen am Landgericht gesetzt habe. Ein Hilfsschöffe wird für den Fall eingesetzt, dass ein Hauptschöffe für ein Verfahren ausfällt: er wird mit den vollen Rechten wie ein Hauptschöffe ausgestattet und muss über die gesamte Prozesszeit als Schöffe teilnehmen. Schon bald zu Beginn des nächsten Jahres wurde ich für meinen ersten Strafprozess am Landgericht einbestellt, und so saß ich plötzlich auf einem der schweren, mit viel Schnitzwerk verzierten Stühle auf dem leicht erhöhten Podest des Sitzungssaals 218 des Landgerichts Bremen, auf dem das Richtergremium Platz nimmt.
Dem vorausgegangen war ein (freiwilliger) Besuch der Justizvollzugsanstalt, damit wir „sehen, wohin Sie die Leute schicken“, wie der uns durch die Anstalt führende Vollzugsbeamte auf die dreistündige Visite in etwas volkstümlichem Duktus einstimmte. Aber er hatte damit Recht, denn die sehr engen, teilweise dringend eine baldige Renovierung fordernden räumlichen Verhältnisse, das durchdringende Geräusch vor und hinter uns beim Öffnen und Schließen der Zellen- und Gangtüren, das Halbdunkel und der Ruch in den Korridoren ließen mich die Verantwortung ahnen, der man als Richter unterliegen wird, denn am Ende eines Strafverfahrens steht dann oft genug , dass man einen Beschuldigten in Haft schickt.
Überhaupt wurde mir sehr bald, durchaus mit gewisser Überraschung, bewusst, dass ich eine überaus ernste Aufgabe übernommen hatte. Und fühlte mich in gleichem Zug sensibilisiert für Themen, die die Justiz betreffen, sei es durch die Medien oder durch Bücher.
Als erstes fiel mir dabei ein Buch in die Hände, das 2018 im Suhrkamp Verlag in deutscher Übersetzung erschien: Der Wille zum Strafen des französischen Sozialwissenschaftlers Didier Fassin. Ein spannender Essay mit vielen Fallbeispielen zum Thema Strafen.
Fallbeispiele
Fallbeispiele - darum geht es auch in dem neuen Buch von Gisela Friedrichsen mit dem Titel „Wir müssen Sie leider freisprechen“, das jetzt im zu Klampen Verlag erscheint. Wer sich jemals mit Gerichtsprozessen und deren journalistischen Reflexion beschäftigt hat oder Leser des SPIEGEL oder von DIE WELT ist, kennt die Reportagen und Analysen dieser Autorin, die in diesen beiden Medien seit 1989 schreibt, beim SPIEGEL damals in der nicht leichten Thronfolge des unbestechlichen Gerhard Mauz (1925-2003), für den sie eine außerordentliche Hochachtung gehabt zu haben schien, so wie ihr Nachruf auf ihn dokumentiert (Link).
Ebenso gut bekannt ist sie als Expertin durch ihre Auftritte im Fernsehen oder Hörfunk. Daher kennt man auch ihre auffällige Stimme und ihren ganz speziellen empathischen Zungenschlag, der ihre Münchner Herkunft nicht verheimlichen kann (Listen).
In ihrem neuen Buch (bereits das dritte, das bei ihrem treuen Verleger in Springe erscheint) sind Reportagen über Prozesse aus den Jahren 2005 bis 2016 versammelt und viele von ihnen klingen einem stark, manche sind eher unbekannte, aber vielleicht umso wichtiger, dass man auch von ihnen erfährt.
Natürlich fiel mir sofort der Prozess um den Fall Kevin ins Auge, spielte sich doch die grausame Geschichte um den bei seinem Tod nur zweieinhalb Jahre alten Jungen hier in Bremen ab, der landesweit hohe Wellen schlug.
Die Tugenden der Frau Friedrichsen
Eine Gerichtsreporterin muss zweierlei Tugenden haben, richtig gutes Sitzfleisch, denn die Regeln der Justiz ziehen manchen Prozess durch Formalien, wie Beweisanträge, Gegenanträge, lange Befragungen oder Gutachten in manche Längen, die aber immer dazu angetan sind oder es zumindest sein sollten, der Wahrheit möglichst auf den Grund zu kommen und sowohl Beschuldigten, wie aber auch natürlich Opfern so gerecht (!) wie möglich zu werden. Diese Beharrlichkeit zeichnet Friedrichsen aus, sonst könnte sie nicht in der Ruhe die Prozesse beschreiben, denen sie beiwohnt.
Aber zum zweiten benötigt sie hohe Schmerzgrenzen, denn was bisweilen an Grausamkeiten, Brutalitäten, Ignoranz, Lügen, Verleumdungen, psychischen Verwüstungen, Verletzungen in den Strafverfahren zur Sprache kommt, belastet, und doch schreibt Friedrichsen nie mit Groll oder Besserwisserei, und mit beidem, mit Distanz, aber immer auch mit breiter Empathie für die Beschuldigten, die Geschädigten, die Richter, Verteidiger, Staatsanwälte, Zeugen, Gutachter, eben für alle, die an Strafprozessen beteiligt sind.
Aber auch ihre Frustrationen und Entrüstung verbirgt sie nicht, über Voreingenommenheit, Rechtsbeugung, Desinteresse an Stellen, wo eigentlich größte Anteilnahme vonnöten wäre. Gerade im Kapitel Verlorene Jahre wird das deutlich, der von Fehlurteilen berichtet und wenn sie uns von mutigen Richtern wie jemand wie Rolf Glenz erzählt, der den jahrelang verhandelten Fall Harry Wörz zu einem guten Ende führte, wenn auch die beteiligte Mannheimer Staatsanwaltschaft auch danach keine Ruhe geben wollte. Die brachte dann doch der Bundesgerichtshof zum Schweigen. Harry Wörz hatte elf Jahre unschuldig im Gefängnis gesessen.
Aus langen kurze Prozesse gemacht
Und was ihr meisterhast gelingt, und damit reicht sie Altmeister Mauz hektoliterweise das Wasser, nämlich die bisweilen lange Tage, Wochen, Monate dauernden Prozesse dauern bei ihr oft nur vier, höchstens mal sechs oder sieben Seiten, und dennoch ist man mit ihnen umfassend informiert über den Hergang eines Verfahrens, seine Tücken, seine glücklichen Momente, seine Konflikte und Widersprüche. Das können in dieser Präzision nur wenigen.
Mich fesselt das Buch und forciert meine Aufmerksamkeit in meiner noch recht frischen Rolle als Schöffe. Und ich werde mich gerne mit der gleichen Neugier in den davor erschienenen Band mit den Reportagen aus den Jahren 1989 bis 2004 vertiefen. Sie könnten alle zur Pflichtlektüre für Schöffen werden, also für die von der Jurisprudenz unbehelligten, unbeeinflussten Laienrichter. Es ist auch ein gutes korrelatives Pendant zu den Erzählungen von Ferdinand von Schirach. Ich bin sicher, die beiden schätzen sich und ihr Schreiben gegenseitig.
Eine kleine Anregung am Ende an den Verleger (und natürlich an seine Autorin): ich denke, es könnte sehr reizvoll sein, Gisela Friedrichsen ihr Buch oder auch ihren vorherigen Reportageband als Hörbuch einlesen zu lassen. Jedenfalls hatte ich beim Lesen von vielen der Artikel sofort auch Friedrichsens Stimme im Ohr, die dem Leser so gut bekannt und vertraut ist (siehe oben).
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