7. Juli 2019 - Es fällt schwer zu rekonstruieren, das Jahr zu ermitteln, in dem ich einmal Lissabon besucht habe. Es will mir nicht gelingen, aber es liegt auch beschämend lange zurück, es war Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger des vergangenen Jahrhunderts. Blamabel, nicht nur weil es so lange her ist, sondern weil ich den Besuch in so guter Erinnerung habe. Es war die Zeit, in der man solche Reisen noch per Anhalter machte, an Fliegen war wegen der immensen Kosten nicht zu denken. Ich war damals eine ganze Woche von Bremen bis Lissabon unterwegs, "gemogelt" hatte ich allerdings auf der Strecke San Sebastian, von wo ich einfach nicht wegkam, nach La Coruña, da hatte ich den Zug genommen, der oft in der unmittelbaren Nähe zum Atlantik die 12 Stunden abbummelte.
Eigentlich ist es kaum verständlich, dass ich trotz meiner jahrzehntelangen Tätigkeit als in Barcelona agierender Literaturagent und trotz der vielen intensiven Kontakte zu den portugiesischen Verlegern dann später nicht die Gelegenheit wahrnahm, einen Besuch zu wiederholen, aber am Ende unternahmen immer meine Kolleginnen diese Geschäftsreisen Richtung Westen, um die lusitanischen Kollegen zu besuchen.
Eine schwerwiegende Unterlassung, wie sie mir jetzt wieder bewusst wird, wenn ich in dem liebevoll gestalteten Lesebuch von Holger Ehling lese: Lissabon - Begegnungen in der Stadt des Lichts blättere und lese. Ehling kennt die Stadt wie jene sprichwörtliche Westentasche und vor allem viele seiner Bewohner von vielen Reisen und langen Aufenthalten, spricht die Sprache und so führt er uns mit viel Herz und intimen Kenntnissen durch diese wundersame Stadt.
Kein Reiseführer, davon gibt es mehr als genug, sondern ein Reiseschmöker, mit dem man sich entweder auf eine Reise in die Hauptstadt gut einlesen oder wieder zu Hause die Erlebnisse nachbereiten kann. Sehr schöne, lichtvolle Fotos durchziehen die Texte, fast alle von ihnen stammen vom Autor selbst.
Schön ist die Stadtrundfahrt mit Ehling in der Linie 28E, der historischen, aber noch genau wie im Jahre ihrer Inbetriebnahme quietschende, durch die Stadt bergauf bergab kurvende Straßenbahn, die sich niemand entgehen lassen sollte, wenn er Lissabon besucht. Ehling setzt oder stellt sich - Sitzplätze sind in dem fast immer vollgepfropften engen Waggon selten disponibel - nicht einfach als Fahrgast in die Bahn, nein, er kennt doch Marco Malta, den Straßenbahnfahrer und lässt sich von ihm als sein passageiro exclusivo chauffieren, aber dessen Anekdoten behält er eben nicht für sich, sondern erzählt sie seinem Leser.
Als leidenschafticher Büchermensch fehlen natürlich auch keineswegs Beiträge aus dieser Hemisphäre, so ein liebevolles Porträt der Livraria Bertrand, die seit 1732 existiert und damit die älteste Buchhandlung der Welt ist. Aber er besucht mit uns ebenso auch neuere Buchhandlungen, die sich in den letzten Jahren gegründet haben in Fernando Pessoas Stadt, und der Antonio Tabucchi so viel seines Schaffens verdankt. Und immer besucht er dort Freunde und Bekannte, somit bekommen wir auch immer den Blick von innen auf die Verhältnisse der Geschichte, dem Alltag und der Kultur der Stadt.
Und der Fußball, der futebol, na, der bekommt natürlich auch sein Kapitel. Immerhin spielen in Lissabon zwei Weltclubs, Benfica und Sporting, und weil es auch dort nahezu unmöglich ist, für ein Derby zwischen den beiden lokalen Konkurrenten zu ergattern, die Plätze in beiden Stadien sind fest in der Hand der zahlenden Mitglieder der Clubs, schildert Ehling uns die Partie zwischen den beiden equipas aus der Perspektive des TV-Zuschauers. aber natürlich nicht allein, sondern zusammen mit seinem Freund Telmo, ein "von Kindesbeinen an eisenharter Sporting-Fan", wie Ehling ihn charakterisiert, und natürlich nicht im Wohnzimmer, sondern in der Stammkneipe der beiden (deren Namen er wohlweislich nicht verrät...).
So lernt man die Stadt Kapitel für Kapitel durch viele Hintertüren kennen und überall bekommt man zu spüren, wie gut Ehling seine Adoptiv-Heimatstadt kennt, aber wie gut er dort auch bekannt ist. Gibt es auch im Portugiesischen den Ausdruck des "bunten Hundes"? Ich behaupte es einfach mal, dann müsste es in etwa heißen wie "Holger é conhecido na cidade como um cão colorido".
Aus den vielen Kapitel entsteht so beim Leser ein Bild einer durchaus romantischen, liebenswürdigen Stadt, die aber auch genauso wie jede andere Großtadt Europas und der Welt zu kämpfen hat gegen Armut, radikale Einmischungen in ihre Kultur, ihren Alltag und ihre Ruhe. Auch diese Problematik schneidet Ehling immer wieder an. Und ich selbst weiß auch aus den guten 30 Jahren, die ich in Barcelona gelebt habe, wie schnell und brutal das Gleichgewicht einer Stadt gestört bis zerstört werden kann, allein durch die Invasionen, die der spottbillige Flug- und der middle-class-Kreuzfahrt-Tourismus in die Reisemetropolen schwemmt. Hoffentlich bleibt Lisboa das weitgehend erspart, ich fürchte nicht.
Ist es da ein Wunder, wenn ich an die Zeit denke, als ich damals Lisboa als Tramper und 2.-Klasse-Einbahnreisender erreichte und allein auf dieser Strecke schon so viele sympathische Menschen kennenlernen durfte, den letzten auf dem Weg von der spanisch-portugiesischen Grenze in Richtung der Hauptstadt, der mich auf sein Weingut einlud und mich einen weiteren Tag beherbergte, so dass aus einer 7-Tage-Reise von Bremen nach Lissabon eine von acht Tagen wurde. Und dieser freundliche Mensch hätte auch in Ehlings Buch auftauchen können, und an diesen Aufenthalt musste ich jetzt wieder denken, als ich Holgers Buch las. Ein wirklich schönes Buch!
Holger Ehling ist Journalist, betreibt eine Medienagentur und ist Sachbuchautor. Sein England - Ein Länderporträt (Ch. Links Verlag) erscheint mittlerweile in der dritten Auflage. Als Reporter hat er aus Afrika und Lateinamerika berichtet, war Kommunikationschef der Frankfurter Buchmesse sowie viele Jahre Korrespondent in London.
Jeden Monat erscheint sein eigensinniger Kommentar in der Fachzeitschrift für Verleger und Buchhändler BuchMarkt. Er lebt in Frankfurt, aber Lissabon ist ihm zur zweiten Heimat geworden.
Holger Ehling: Lissabon - Begegnungen in der Stadt des Lichts - Erschienen bei Corso in der Verlagsgruppe Römerweg, Wiesbaden, 2019 - 192 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, mit vielen farbigen Abbildungen - ISBN 978-3-7374-0750-2 - € 24,90
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