8. Oktober 2024 - Literatur erzählt – so heißt eine mittlerweile im Norden Bremens bekannte, beliebte und immer wieder ausverkaufte Veranstaltungsreihe, mit der der Buchhändler Martin Mader in seiner Buchhandlung Otto & Sohn in kurzweiligen Darbietungen Klassiker der Weltliteratur vorstellt und die Texte aus den entsprechenden Werken oder den Œuvres der Autoren selbst vorträgt. Bislang gehörten zu seinem Repertoire solch schwerwiegende Dramen wie Goethes Faust, der Tragödie erster Teil, Shakespeares Hamlet, Sophokles' König Ödipus, Lessings Nathan der Weise und Epen wie Die Nibelungensaga oder Homers Odyssee.
Wieder vor ausverkauftem Haus in der Vegesacker Breiten Straße startete am vergangenen Samstag die neue Lesesaison mit der Vorstellung eines Autors, dessen Namen und - natürlich! - seinen Roman »The Adventures of Tom Sawyer« wohl jeder und jede schon einmal gelesen hat, und sei es in einer »abgespeckten» Jugendausgabe. 1876 war diese das erste Mal in seiner US-amerikanischen Ausgabe erschienen, damit übrigens im gleichen Jahr auch in der deutschen Übersetzung, dort unter dem Titel »Tom Sawyers Abenteuer und Streiche«, beim Verlag Hesse & Becker in Leipzig.
Die Rede ist also von Mark Twain, der als Samuel Langhorne Clemens geboren wurde (*30.11.1835 in Florida, Missouri - † 21. April 1910 in Redding, Connecticut). Mit dem Pseudonym Mark Twain setzte er 1853 seine schriftstellerische Karriere fort, die er als Reiseschriftsteller schon in seinen früheren Jahren begonnen hatte. Mark Twain ist ein Ruf aus der Sprache der Mississippi-Flussschiffer. Übersetzt bedeutet er Zwei Faden Wassertiefe, der von dem Faden des Tiefenmessers abgelesen wird, den die Mississippi-Schiffer auf dem flachen und trüben Mississippi benutzten, wo man die Wassertiefe häufig messen musste, um nicht auf Grund zu laufen.
Bevor er angefangen hat, tatsächlich mit dem Schreiben viel Geld, sogar sehr viel zu verdienen, hatte der junge Twain selbst 1857 eine Ausbildung zum Beruf als Lotse auf dem längsten Fluss der USA angetreten und hatte ihn bis 1861 ausgeübt. Gute 20 Jahre später hat Twain diese prägende Erfahrung als junger Mann in seinem »Life on the Mississippi« wieder aufleben lassen. Mader ließ es sich nehmen, eine lange Passage daraus vorzulesen, zum hörbaren Amüsement seiner Hörerschaft.
Samuel kam als sechstes Kind seiner Eltern in Florida, Missouri zur Welt. Als er vier Jahre alt war, zog seine Familie in die Kleinstadt Hannibal am Westufer des Mississippi. Im Jahre 1846 zogen sie dort in das Haus eines Apothekers ein und hielten, anstatt Miete zu zahlen, das Haus instand. Diese Zeit der Jugend und die Hafenstadt am Mississippi River boten später die Kulisse für die Romane Tom Sawyer und die Abenteuer des Huckleberry Finn.
Als Samuel elf Jahre alt war, starb sein Vater. Er begann dann schon bals bei der Zeitung Missouri Courier eine Ausbildung als Schriftsetzer. Sein Bruder Orion kaufte das Hannibal Journal, in dem Samuel erste kurze Artikel veröffentlichen konnte. Bis zu seinem 18. Lebensjahr blieb er als Samuel Clemens in Hannibal und publizierte 1852 The Dandy Frightening the Squatter unter seinem ersten ausgesprochen ambitionierten Pseudonym Epaminondas Adrastus Perkins. Auf solch einen Namen muss man erst einmal kommen.
Zwei und ein dritter Erfinder
An Phantasie und Einfallsreichtum und Geschäftstüchtigkeit fehlte es den beiden Brüdern nicht. Samuel und Orion erfanden und konstruierten in Zusammenarbeit mit dem Erfinder James W. Paige aus Rochester, New York eine monströse Setzmaschine. Sie bestand aus sagenhaften 18.000 Hauptteilen, 800 Achsen und Rädern und einer großen Zahl kleinerer Scheiben und Federn. Auf 109 Tasten tippte der Person die es bediente, Buchstaben-Verbindungen, Silben und ganze Wörter durch akkordähnliche Anschläge. Die Patentierung der Maschine nahm acht Jahre in Anspruch und war das aufwändigste bis dahin bekannte Verfahren ind en USA. Hunderte von Bogen mit Zeichnungen, über tausend Einzelansichten und ungezählte Seiten mit Erläuterungstext waren durchzuarbeiten. Einer der Patent-Prüfer starb während der Prüfungszeit, ein anderer wurde wahnsinnig, und auch der beauftragte Patentanwalt starb in einem Irrenhaus.
Aus eigenem Erleben in der Setzerei von der Sinnhaftigkeit dieser Maschine und der Genialität des Erfinders überzeugt gab Mark Twain ab 1880 immer wieder große Summen zur Weiterentwicklung und Patentierung. Doch mit der Aufstellung der ersten Linotype-Zeilengießmaschine von Ottmar Mergenthaler im Juli 1886 waren die Weichen gestellt. Die Paige-Setzmaschine schien bei einem kalkulierten Verkaufspreis von 15 bis 20 Millionen Dollar dem Untergang geweiht. Auch das Angebot, die Apparatur für eine Jahresmiete von 6.000 Dollar aufzustellen, fand keine Interessenten. 1894 meldete die mit dem Bau betraute Gesellschaft Konkurs an, und Mark Twain hatte sein Vermögen verloren. Nicht daa einzige Mal, wie Mader erzählte.
Von all diesen eher skurrilen Karriereschritten und aus den verschiedenen Schaffenszeiten erzählte Mader mit großer Lust und las dazu im Anschluss immer aus entsprechenden Twain-Texten vor. Ein Highlight unter ihnen war die detaillierte Geschichte, wie es tatsächlich zum Sündenfall gekommen war; eine durchaus wesentlich differenziertere Fassung als jene, die man aus dem Alten Testament kennt. Stehen tut sie in »Extracts from Adam's Diary«, erschienen 1904. Ein treffender Beleg für Twains humoristische Qualitäten. Das Vegesacker Publikum war der gleichen Meinung!
Der Reiseschriftsteller
Von 1852 an reiste er als wandernder Schriftsetzer durch den Osten und den Mittleren Westen. Aus St. Louis, Philadelphia, New York City und Washington, D.C. schrieb er Reiseberichte für die Zeitung seines Bruders. In New York City verbrachte er viele Abende in den Astor- und Lenox-Bibliotheken (beide New York Public Library), um seine bis dahin mangelhafte Allgemeinbildung zu verbessern. Später folgten lange Reisen durch Europa und eine nach Palästina.
Acht Jahre nach dem großen Erfolg des Tom Sawyer folgten dann die »Adventures of Huckleberry Finn«, die kein Geringerer als Ernest Hemimgway mit dem Prädikat als »the source of all modern American literature« krönte.
Doppeltalent
Martin Mader ist nicht nur ein Buchhändler, wie man ihn sich wünscht; belesen, lange Jahre im Geschäft, er und sein ganzes Team gute Berater und Beraterinnen. Einfallsreich und hartnäckig in seiner Rolle als unabhängiger Kämpfer gegen den Internet- und Großketten-Buchhandel, dem sich alle unabhängigen Buchhandlungen mittlerweile stellen müssen. Er wird ebenso als Geschäftsmann der Vegesacker Innenstadt hoch geschätzt, weil er auch hier auf allen Ebenen aktiv und innovativ ist, das Ansehen und die Bedeutung des Zentrums dieses beliebten Stadtviertels zu schützen und immer wieder zu verbessern. Die Buchhandlung gehört zu den ältesten Geschäften Vegesacks, 1927 wurde sie bereits gegründet. Wir können uns jetzt schon mal auf die Jubiläumsfeierlichkeiten in drei Jahren freuen!
Aber ein weiteres Talent befähigt Mader für solche literarischen Vorträge: seit vielen Jahren gehört er zum Ensemble des Statt-Theater-Vegesack, sowohl als Schauspieler wie als Regisseur. Es handelt sich keineswegs um eine Volksbühne, das derbe Schwänke aufführt, sondern es hat sich mittlerweile als ein ernst zu nehmendes Amateurtheater profiliert, das auch auf Tournee geht und deren Mitglieder sich ihre soliden Qualitäten durch Schauspielunterricht und Stimmbildung angeeignet haben.
Das kommt dem Moderator und dem Vorleser und damit den Zuhörern der Soiree zugute: Mader ändert seinen Tonfall, seine Stimmlage, seine Diktion im Wechsel der jeweiligen Passagen, in denen er erzählt und in denen er aus den Originaltexten vorliest. Inhaltlich übertreibt er nie in womöglich zu streng literaturwissenschaftlicher Richtung. Sein Ton bleibt unterhaltsam, Humor begleitet die Lesung auch und bleibt dennoch dicht am Autor und dessen Biographie. Ohne wegsehen zu müssen, kann Mader sich mit jemandem wie einem Hanjo Kesting und dessen Klassiker-Reihe in der Stadtbibliothek Bremen problemlos messen lassen.
Ganz zu Anfang des Abends hatte Mader deutlich gemacht, dass er sich von den aktuellen Diskussionen um die sogenannten N-Wörter in seinem Vortrag nicht verunsichern lassen wolle und blieb somit bei den in den Texten authentischen Versionen. Das schien mir eine richtige Entscheidung, so wichtig und angebracht die Diskussion und Bewusstmachung um diskriminierenden Sprachgebrauch in der heutigen Zeit ist.
Ich lasse weitere Details von Maders Lesung aus und empfehle Ihnen einen Besuch, die nächste Aufführung fand bereits am vergangen Sonntag - ein weiteres Mal ausverkauft! - aber es gibt eine weitere Aufführung, dann in einer Matinee, und zwar am Sonntag, dem 13. Oktober um 11 Uhr in der Breiten Straße nº 21-22.
Liebesbriefe
Den Abschluss des Abends wurden uns Liebesbriefe vorgelesen, die zwischen Mark Twain und seiner Frau Olivia (1845 - 1904) hin und her geschrieben worden waren, in denen sie sich gegenseitig zärtlich mit ihren Kosenamen Mein Junge und Livy nannten. Mader hatte aus den insgesamt 1848 (!) erhaltenen Briefen zwischen den beiden zwei herausgesucht. Ein passendes Finale eines unterhaltsamen, lehrreichen und stimmigen Abends, dem das Publikum von Anfang bis Ende konzentriert und angeregt folgte und dem Akteur und Autor des Abends mit einem herzlichen Applaus dankte.
Manchen Gästen wird es ähnlich wie mir ergehen: angestiftet durch die Madersche Soiree: Ich werde mir die eine oder andere Lektüre aus Mark Twains Werk gönnen, der gute alte Tom Sawyer wird sicher dazugehören. Na, und die Liebesbriefe!
Eine weitere Empfehlung sei hier gestattet: das Leben und Werk Mark Twains wird in mannigfachen Publikationen behandelt, manche nicht mehr lieferbar, andere wieder, bzw. weiterhin. Gerade zum Jahrestag seiner Geburt in 2010 erschien so manches oder wurde manches wieder aufgelegt, oft auch in neuen Übersetzungen ins Deutsche. Für ein erstes Studium eignet sich aber auch der (englischsprachige) Eintrag in Wikipedia zu M.T., der recht umfangreich ausfällt und eine gute Recherche zu sein scheint. Der Link: https://bit.ly/4gPxMDT
Weblinks:
Wenn Du willst, kannst Du mir gerne Deinen Kommentar schicken, und zwar an diese Mail-Adresse: blog.guenny@mercadodelibros.info
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