Gut ist es, es im Vorhinein nicht zu wissen, was es bedeutet, wie wichtig körperliche Bewegungsfreiheit sein kann. Das ändert sich dann aber abrupt, wenn diese Beweglichkeit plötzlich nicht mehr zur Verfügung steht. Und man in einem Krankenhausbett aufwacht und einem zu Bewusstsein kommt, dass man vollkommen bewegungsunfähig geworden ist. Dazu angeschlossen an unzählbare Schläuche und Beutel, sprechen kann man auch nicht, weil einen ein Tubus, der in die Luftröhre gepflanzt wurde, daran hindert. Und langsam, ganz allmählich wird einem klar, schon weil die Umwelt es einem durchaus glaubwürdig berichtet, dass man schon seit ein paar Wochen so danieder liegt. Und auch nicht mehr in einem Bremer Krankenhaus, in das ich mich eigenen Fußes zwei Monate vorher begeben hatte, um mir lediglich den Blinddarm herausoperieren zu lassen. Sondern auf der Neurologischen Intensivstation eines Krankenhauses in Oldenburg.
Es braucht dann eine längere Zeit, bis man Stück für Stück anfängt zu begreifen – wenn auch nur in begrenztem Umfang, weil der eigene Kopf es einem nicht gestattet, alles in dieser Lage voll zu erfassen – was da geschehen sein mag und um zu ermessen, was noch vor einem vorliegen könnte. Das geht wiederum damit einher, dass man sich in jeder Beziehung verschätzt: meinen Geburtstag, also schon in einem Monat, denke ich mir, werde ich zu Hause feiern können, dann an dem Geburtstag selbst, in dem ich immer noch im gleichen Bett liege, bin ich mir sicher, dass es aber bis Weihnachten gelingen wird.
Und wieder ist es gut, vorher nicht zu wissen, wie lange sich eine Rekonvaleszenz hinziehen kann. Ja, es wurden dann viele Wochen, etliche Monate, bis mich die Ambulanz in sechs Stunden Fahrt von der Reha-Klinik im fernen Bad Wildungen in meinem Zuhause in Bremen abgeliefert hatte, in das Domizil, das ich vorher erst vier Wochen bewohnt hatte, nachdem wir aus Barcelona in die alte Heimat gezogen waren, und es jetzt erst nach sieben Monaten, nachdem ich die Klinik in Bremen betreten hatte, wiedersah.
Und noch war nicht an Laufen zu denken. Man hatte mich in einem Rollstuhl abgesetzt, wo mich aber ein glücklicher Ehemann in die Arme nehmen konnte, der mich – wie konnte es denn anders sein – mit einem seiner lukullischen Verlockungen (war es das geliebte Bremer Kükenragout?) empfing. Dazu hieß mich auf dem Tisch ein riesiger Tulpenstrauß willkommen, den mir zwei Freundinnen aus Hamburg zur Begrüßung hatten liefern lassen.
Ach, überhaupt Hartmut, meine Familien und meine vielen Freunde aus Bremen, Barcelona und sonst wo her! Wie haben sie mich in den ganzen Monaten begleitet, mir Mut gemacht, unter die Arme gegriffen, unter meine mentalen, wie meine physischen. Und wie sie um mich bangen mussten.
Ebenso wäre ich nie wieder ohne die vielen medizinischen und therapeutischen Helfer auf die Beine gekommen, wobei ich wieder neben den sprichwörtlichen auch wieder die tatsächlichen Gliedmaßen einschließen möchte.
Die zwei Wunderheiler
Da gehören vor allem meine beiden Physiotherapeuten erwähnt, der in Oldenburg, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern kann, mit dem ich so viel Blödsinn machen konnte und der immer wieder darauf bestand, dass ich den vielen Unsinn, den ich von mir gab, doch auf jeden Fall aufschreiben müsse. Und wie ihn auch die Erzählungen von meinen vielen, bisweilen grauenhaften Albträumen faszinierten, die mich fast jede Nacht überraschten, die sich immer undurchschaubar mit der Wirklichkeit vermischten und die geboren wurden aus den Nachwehen der vielen und starken Dosierungen der mir verabreichten Analgetika.
Und natürlich Andreas, mein Physiotherapeut in der Rehaklinik in Hessen. Er ist Grieche, lebte erst seit sehr kurzem in Deutschland und sprach erst sehr wenig Deutsch. Man sah sich zweimal am Tag, das fünfmal in der Woche, das waren am Ende gute zweihundert Sessionen, die man zusammen verbracht hatte und während derer Andreas mich so weit konditionieren konnte, dass ich in der Lage war, mich selbstständig aus meinem Bett oder dem Sofa in den Rollstuhl zu bewegen und auch wieder umgekehrt. Und mir immer wieder Mut machte: "Du kommst wieder auf die Beine, glaube mir!" predigte er mir immer wieder. Und wie Recht hatte er, es kam so, wie er versprochen hatte. Ich gab ihm im gleichen Zuge Deutschunterricht. Flacher heutiger Sprachgebrauch nennt eine solche Symbiose eine „Win-Win-Situation“, wenn man das eher traditionell formuliert, wie beispielsweise mit „es war ein Segen“ (jedenfalls für mich), trifft das diese Begegnung viel schöner.
Das Wiedereinleben ins neue Zuhause gelang dann – alles wieder in kleinsten Etappen – sehr sachte und langsam, aber stetig. Und gelang immer wieder nur durch die Hilfe meiner vielen „hilfreichen Geister“, die mich umgaben, stellvertretend für viele, aber in der vordersten Linie, gehören Hartmut, meine Schwester und – niemals zu vergessen – unsere Haus- und Hofhündin Mme. Maggie erwähnt.
Dann kamen die nächsten Etappen, der Übergang vom Rollstuhl zum Rollator und dann – wieder eine so wichtige Distanz, die ich hinter mich brachte – der Erwerb meines Easy Rider, das Modell eines von einem Elektromotor unterstützten Dreirads, das mich endlich auch ein paar Meter, nein, Kilometer weiter von der Haustür entfernt bringen konnte.
Das Dreirad bedeutet Glück
Dieser Sprung konnte nur durch die konkrete ökonomische Hilfe der Familien und Freunde und früheren Arbeitskollegen gelingen, weil die Krankenkasse nicht in ihre so offensichtliche notwendige Pflicht trat und meinen Antrag - nicht ohne diskriminierenden Beigeschmack – mit zweifelhaften Begründungen ablehnte.
Dieses Gefühl packte die Bremer Tageszeitung, der Weser-Kurier, auch gleich in die Schlagzeile des Interviews, für das diese mich im Rahmen ihrer sonntäglichen Kolumne „Draht & Esel“ besucht hatte: „Das Dreirad bedeutet Glück“.
Und bald konnte ich mich dann schon mit dem Gehstock unter die Leute wagen, zumindest so machte ich das klassische Bild eines Rentners perfekt.
Meine weitere Genesung erfuhr dann noch eine brisante Unterbrechung: mit meinem Dreirad war ich zu meinem Hausarzt gefahren, dessen Praxis ich zwar noch wohlgemut mit einem freundlichen „Moin!“ auf den Lippen betrat, dann aber spektakulär - bedingt durch einen Herzstillstand - zu Boden ging, und nur der hohen Kunst meines Arztes und der ihm meisterhaft gelungenen zweifachen Wiederbelebung und einem schnellen Abtransport in die Herzklinik verdanke ich mein heutiges Leben.
On the road again
Nun, und bald nahm ich das nächste Projekt in Angriff: ich wollte wieder Auto fahren. Dazu musste ich meinen Führerschein umwidmen lassen, der mich bislang befugt hatte, sämtliche alle durch die StVO aufgeführten Kraftfahrzeugklassen Mobile zu lenken. Das bedeutet einen recht umfangreichen Aufwand, es müssen kostspielige medizinische Gutachten erstellt werden, auf die man einerseits lange warten und sie andererseits auch teuer bezahlen muss. Dann muss man Fahrstunden ableisten, um sich auf die für meinen Fall in Frage kommende Umrüstung des zukünftigen Automatik-PKW zu gewöhnen, und am Ende steht eine Fahrprobe. All dieser hohe Einsatz geschieht, ohne dass man sicher sein kann, am Ende auch die begehrte Lizenz ausgehändigt zu bekommen.
Aber all das gelang und kurze Zeit später stand das für mich adaptierte Fahrzeug vor der Tür. Dann musste ich wieder mit der gleichen Unsicherheit und der gleichen Furcht das Fahren erlernen, an die ich mich gut erinnerte, wie ich damals mit achtzehn Jahren nach meiner Fahrprüfung das erste Mal den Kleinwagen meiner Mutter, ein Daffodil (!), begann zu fahren.
Heute fahre ich mit der gleichen Wendigkeit, die ich von mir aus den vorkrankheitsbetroffenen Zeiten kannte. Vielleicht ein bisschen ruhiger, dem jetzigen Alter ein wenig angepasster, ohne dass ich hoffentlich nicht allzu oft den hinter mir fahrenden Straßengenossen Grund gebe, mich anzuhupen, um mich zu schnellerem Fahren zu drängen oder zu verführen.
Erst während ich diesen kleinen Bericht formulierte, wurde es mir gewahr, dass auf den Tag genau drei Jahre vergangen sind, seitdem ich aus meiner hessischen Reha-Klinik zuhause abgeliefert wurde. Ein schöner Zufall.
Wenn das kein Grund zum Feiern ist? Einen schönen Ausflug über Land werden wir uns jetzt gönnen. Abgemacht! Ich bin ja wieder mobil!
Weblink:
Artikel | Weser-Kurier: Das Dreirad bedeutet Glück
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