My Ghost Writers · Heute: Lennart Kassuba
- Guenter G. Rodewald

- vor 3 Tagen
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 23 Stunden

10. November 2025 · Gerne biete ich anderen Personen meinen Blog an, um auf ihm unter der Rubrik My Ghost Writers ihre Artikel, Meinungen, Interviews oder Erzählungen zu veröffentlichen. Heute ist es Lennart Kassuba, Schüler des Gymnasiums Vegesack. Es handelt sich um seine Rede, die er anlässlich der gestrigen Veranstaltung zum Gedenken an die Reichspogromnacht am 9. November 1938 als Hauptredner am Mahnmal auf dem Jakob-Wollf-Platz in Bremen-Aumund gehalten hat. An diesem Ort stand die 1834 errichtete Synagoge der Jüdischen Gemeinde Aumund. Diese hatten SA-Angehörige unter den Augen einer großen Zahl von Schaulustigen in aller Öffentlichkeit am 10. November 1938 in Brand gesetzt und sie bis auf deren Grundmauern niederbrennen lassen.
Jakob Wolff war der letzte Vorsteher der Jüdischen Gemeinde Aumund. Gemeinsam mit seiner Frau Rosa, geb. Freudenthal, wurde er 1942 ins KZ Theresienstadt deportiert, wo er im gleichen Jahr starb. Die gemeinsame Tochter Erna konnte 1939 zusammen mit ihrem Mann nach Amsterdam emigrierten, wo sie jedoch beide nach der Besetzung der Niederlande durch die deutschen Truppen entdeckt, ins Vernichtungslager Sobibor deportiert und dort 1943 ermordet wurden. Rosa Wolff überlebte das KZ Theresienstadt und kehrte 1945 in ihr altes Haus in der Reeder-Bischof-Straße 58 zurück. 1964 verstarb sie 91-jährig.
Die Rede von Lennart Kassuba bewegte die zahlreichen Teilnehmer der Gedenkveranstaltung, der sie so auch einen ausgiebigen Beifall spendeten. Eben gerade auch aus dem Grund, dass sie von einem jungen Menschen gehalten wurde und so klare Worte bot. Das erfüllte wohl alle mit Hoffnung, das spürte man und so fielen die Kommentare aus.
Auch der Redaktion von DIE NORDDEUTSCHE war das Ereignis einen exklusiven ins Auge springenden Beitrag auf der Titelseite mit Text und einem Porträt von Lennart Kabbusa wert. Außer dem jungen Redner traten auch der Vegesacker Ortamtsleiter Gunnar Skolik und die Beiratssprecherin Heike Sprehe ans Mikrofon. Am Ende verlas Pastor Jan Lammert von der Evangelischen Kirchengemeinde Aumund-Vegesack die Namen der Nordbremer NS-Opfer.
Ich fragte Lennart, ob er mir den Text der Rede zur Verfügung stellen wolle, um sie auf einem bescheidenen Platz wie meinem Blog weiterverbreiten zu können. Ihm gefiel die Idee, und so freue ich mich, dass ich das hiermit erfüllen kann.
Das Wort hat also Lennart Kabbusa!

Rede auf der Gedenkveranstaltung an die Reichsprogromnacht 2025
Lennart Kassuba
»Grenze zwischen Moral und Anpassung«
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitmenschen,
mein Name ist Lennart Kassuba, und ich bin am 9. November 2006 geboren. Seit ich denken kann, war dieser Tag für mich nicht nur mein Geburtstag – sondern auch ein Tag, der wie kaum ein anderer die deutsche Geschichte prägt.
Der 9. November ist der sogenannte „Schicksalstag“ der Deutschen.
Er steht für beides: für die tiefsten Abgründe unseres Landes – und für Momente der Hoffnung und des Aufbruchs.
Er erinnert an das Ende der Monarchie, an den Fall der Mauer – aber eben auch an die Nacht vom 9. November 1938:
Die Reichspogromnacht.
Anfang des Jahres habe ich eine Geschichtsarbeit geschrieben. Ihr Titel:
„Moral und Anpassung im NS-Regime“.
Im Mittelpunkt stand die Frage:
Wie haben Menschen hier in Bremen-Nord damals gehandelt – oder nicht
gehandelt?
Ich habe in meiner Arbeit über die Ereignisse rund um die Synagoge in Aumund geforscht – also genau hier, in der Nähe dessen, wo wir heute stehen.
In der Nacht vom 8. auf den 9. November 1938 begann im gesamten Land eine organisierte Welle der Gewalt gegen jüdisches Leben. Auch Bremen war betroffen. Im Schnoorviertel wurde die dortige Synagoge zerstört – in Flammen gesetzt und dem Erdboden gleichgemacht.
Die Aumunder Synagoge blieb in dieser Nacht zunächst verschont – offenbar hatte man sie vergessen.
Doch am Tag darauf, am 10. November, befahl der Bremer SA-Sturmbannführer Röschmann die Zerstörung auch dieses Gotteshauses. Zwischen 14:30 und 15:30 Uhr ging die Synagoge in Flammen auf.
Und was machte die Feuerwehr?
Sie kam – aber sie löschte nicht.
Sie sorgte lediglich dafür, dass das Feuer nicht auf Nachbarhäuser übergriff.
Man hatte das Löschwasser vorher in den Gully geleitet.
Und die Menschen? Sie schauten zu.
Viele waren neugierig. Kaum jemand schritt ein.
Ein Gotteshaus wurde zerstört, und die Nachbarschaft schwieg.
Ich habe mich oft gefragt:
Wie konnte das geschehen?
Wie konnte man einfach zusehen, wie Mitbürgerinnen und Mitbürger entrechtet, verfolgt und aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden?
Wie konnte man so gleichgültig sein?
Gerade hier – in Vegesack, in Bremen-Nord, wo heute so viele Kulturen, Sprachen und Lebensentwürfe zusammenkommen und ein friedliches Miteinander möglich ist.
Es ist schwer, sich vorzustellen, dass genau hier ein solcher Hass entfesselt wurde. Und doch war es so.
In meiner Recherche, die ich auch mit der Internationalen Friedensschule Bremen durchgeführt habe, kam ich zu einer ernüchternden Erkenntnis:
Die Menschen damals haben größtenteils weggeschaut.
Sie haben sich angepasst.
Sie haben mitgemacht – oder geschwiegen.
Und ich frage mich:
Was bedeutet das für uns heute?
Was lernen wir aus dieser Geschichte?
Für mich ist klar: Menschenrechte sind keine Meinung. Sie sind universell. Es ist keine Frage des Standpunkts, ob man gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung einsteht. Es ist unsere Pflicht.
Die Vergangenheit ist nicht einfach vorbei, nur weil sie in Geschichtsbüchern steht. Sie lebt weiter – in den Orten, an denen sie geschah.
Auch in Bremen-Nord. Auch in Aumund.
Es liegt an uns, sie nicht zu verdrängen, sondern zu erinnern, zu erzählen – und daraus zu lernen.
Wir können dankbar sein, dass Vegesack heute ein Ort der Vielfalt ist.
Aber diese Vielfalt ist keine Selbstverständlichkeit.
Sie ist das Ergebnis von Engagement – von Menschen, die für Offenheit, Demokratie und Toleranz einstehen.
Und genau das tun wir heute.
Wir erinnern – um nicht zu vergessen.
Wir sprechen – um nicht zu schweigen.
Wir denken nach – um nicht zu wiederholen.
Denn wir leben in einer Zeit, in der viele wieder nach einfachen Antworten suchen, in der manche versuchen, Geschichte umzudeuten oder zu verdrängen.
Das dürfen wir nicht zulassen.
Unsere Freiheit, unsere Demokratie – sie sind kostbar.
Und sie brauchen Menschen, die aufstehen, wenn es nötig ist.
Die nicht schweigen.
Die nicht wegsehen.
Vielen Dank.
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