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  • AutorenbildGuenter G. Rodewald

My Ghost Writers - Heute: Sofia Leonidakis

Aktualisiert: 19. März


31. Oktober 2021 - Gerne biete ich anderen meinen Blog an, um auf ihm unter der Rubrik My Ghost-Writers ihre Artikel, Meinungen, Interviews oder Erzählungen zu veröffentlichen. Heute ist es Sofia Leonidakis, Abgeordnete der Bremischen Bürgerschaft für DIE LINKE, die mit einem Statement auf ihrer Facebook-Seite Stellung bezieht und Parteinahme ergreift für die MillionenMenschen, die als billige Arbeitskräfte in die Bundesrepublik verschafft wurden und denen man perfide den Status von „Gästen“ gegeben hatte, indem man sie verschlagen in „Gast"-Arbeiter“ taufte.


Am vergangenen Freitag wurde im Bremer Focke-Museum eine Ausstellung aus Anlass des 60-sten Jahrestages des Abwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei eröffnet. Dieses Ereignis kommentiert Sofia Leonidakis aus ihrer Sicht, die kaum authentischer ausfallen kann, denn die Autorin ist Tochter eines griechischen Vaters, der in den 80-er Jahren nach Deutschland kam, um hier zu arbeiten und hat, wie ihre Famlie, Ausgrenzung und Rassismus am eigenen Leib erfahren müssen.


Sofia, Du hast das Wort:

 

HIÇ BIR MISAFIR 60 SENE KALMAZ · KEIN GAST BLEIBT 60 JAHRE.


Insgesamt neun Anwerbeabkommen für Arbeiter*innen schloss die Bundesrepublik zwischen 1955 und 1968 ab. Das Anwerbeabkommen mit der Türkei wurde heute vor 60 Jahren geschlossen und umfasste gerade einmal zwei Seiten. Es ist das Abkommen, in dessen Rahmen die mit Abstand meisten so genannten Gastarbeiter*innen nach Westdeutschland gekommen sind.


Fast 900 Tausend Menschen aus der Türkei sind bis zum Anwerbestopp 1973 nach Deutschland - unter noch härteren Auflagen als die Arbeiter*iunnen im Rahmen der anderen Abkommen: der Familiennachzug war anfangs ausgeschlossen und alle sollten in einem Rotationsprinzip nach zwei Jahren Aufenthalt zwingend wieder ausreisen und durch andere ersetzt werden. Weil die Industrie sich weigerte eingearbeitete Arbeitskräfte wegzuschicken und neue einzuarbeiten wurden diese verschärften Auflagen dann etwas gelockert. Der Ausbeutung in den Fabriken, schlechteren Bezahlung, Zuteilung der schwersten, monotonsten und unbeliebtesten Arbeiten hat das natürlich keinen Abbruch getan. Dem Rassismus auch nicht.


Als die Ford-Arbeiter*innen 1973 in wilden Streik traten- gegen die fristlosen Kündigungen von 300 „Gastarbeiter*innen“, aber auch generell gegen die Ausbeutung, hetzte die BILD: „Gastarbeiter, dieses Wort kommt von Gast. Ein Gast, der sich nicht so beträgt, gehört vor die Tür gesetzt!“


Auch mein Großvater stand auf den Listen zur Ausreise aus Griechenland. Die Papiere waren fertig, dann hat er sich wegen seiner Familie doch dagegen entschieden und blieb Müllwerker in Athen.

Nach Deutschland gegangen ist dann sein Sohn - mein Vater. Das war in den 80er Jahren, als es schon keine Anwerbeabkommen mehr gab. Die Arbeitsbedingungen waren und sind trotzdem ähnlich: schwere Tätigkeiten, jahrelang keine Lohnerhöhungen, Vereinzelung.


Ich habe mal ein Interview mit Vassilis Tsianos gehört, in dem er über seine Eltern sprach, die immer ruhig gewesen seien, sich niemals auflehnten aus Angst, negativ aufzufallen, sich im fremden Land anzulegen, Rassismus „zu provozieren“. Natürlich ist das eine Täter-Opfer-Umkehr, aber das Umfeld war genauso und ich kenne dieses Gefühl aus meiner Kindheit: sich lieber nicht mit jemandem anlegen. Darauf angewiesen sein und immer im Hinterkopf zu haben, dass Auflehnen oder gerechte Bezahlung verlangen auch rassistische „Erklärungs“-Muster nach sich ziehen kann. Und kaum jemanden zu haben, der*die dann zur Stelle ist.


Die Gastarbeiter*innen haben eine enorme Wirtschaftsleistung erarbeitet. Sie haben die Profite der Konzerne auf Kosten ihrer gerechten Bezahlung, ihrer Gesundheit, ihrer ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse, ihrer Familien maximiert.


14 Millionen „Gastarbeiter*innen“ kamen im Rahmen der Anwerbeabkommen mit Italien (1955), Griechenland (1960), Spanien (1960), Türkei (1961), Marokko (1963), Südkorea (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968) in die Bundesrepublik. Ein Großteil ist wieder ausgewandert, viele sind aber auch geblieben, haben ihre Kinder hier erzogen, Enkel und Urenkel bekommen. Viele sind inzwischen eingebürgert, trotz der kontraproduktiven Entscheidungszwang im Staatsangehörigkeitsrecht und den ökonomischen Hürden, die keine Einbürgerung bei Leistungsbezug erlauben.

Weitere rund 93.000 „Gastarbeiter*innen“ warb sie DDR aus Polen (1963), Ungarn (1967), Algerien (1974), Kuba (1975), Mosambik (1979), Vietnam (1980) und Angola (1984), Mongolei (1982), China (1986) und Nordkorea (1986) an. Während die SED von internationaler Solidarität und „Freunden“ sprach, durften sie keine Kinder bekommen, bekamen die schlechtesten Arbeiten in den VEBs zugewiesen und wurden vor und nach der Wende Zielscheibe rassistischer Angriffe (z.B. auch Erfurt 1975).


Nach der Wende setzte eine Kontinuität rassistischer und antisemitischer Pogrome und Attentate ein: Berlin-Eberswalde 1990. Hoyerswerda 1991. Rostock-Lichtenhagen 1992. Mölln 1992. Solingen 1993. Die NSU-Morde 2000-2007. Henriette Reker 2015. München 2016. Weit über 1000 angegriffene Geflüchtete und ihre Unterkünfte zwischen 2015 und 2017. Mord an Walter Lübcke 2019. Halle 2019. Hanau 2020. Und weitere.


Allein zwischen 1990 und 1993 wurden insgesamt 58 Menschen durch Rechtsextreme getötet, bis heute sind mindestens 213 Menschen von Rechtsextremen getötet worden. Schwarze Menschen, People of colour, rassifizierte Deutsche, Romn*je, Jüd*innen, Obdachlose, Politiker, Polizistin. Hinzu kommen noch ungezählte Attacken und Angriffe, die nicht tödlich endeten.


Der grassierende und kontinuierliche rechter Terror in den alten und neuen Bundesländern ist nicht nur, aber auch zurückzuführen auf die Verfehlungen seit den fünfziger Jahren. Der Gedanke, man könnte Arbeiter*innen anwerben und wieder loswerden wie eine Sache, der Gedanke es handele sich um Gäste auf Zeit, der Gedanke man müsse nichts oder fast nichts für ihre sozialen Bedürfnisse tun, hat sich als falsch erwiesen. Die Idee, es würde sich nur um so genannte Humanressourcen handeln und nicht um Menschen, die Idee, mit der bloßen Phrase von internationaler Solidarität würde reichen um Antifaschismus zu verbreiten, und die Überlegung, mit rassistisch geführten Debatten und massiven Asylrechtsverschärfungen würde man den rechten Kräften den Wind aus den Segeln nehmen hat sich als fataler Irrtum herausgestellt. Die jahrzehntelange Verharmlosung von Rechtem Terror und den Verstrickungen der Sicherheitsorgane hat viele Menschen das Leben und die Sicherheit gekostet.


Damit muss Schluss sein. Die Mehrheitsgesellschaft sollte dankbar sein für all das, wie unsere Leute auch für dieses Land geschuftet haben. Die Verantwortlichen müssen Verantwortung übernehmen für die Versäumnisse der Vergangenheit - und es in Zukunft besser machen. Wir dürfen niemals schweigen zu Unrecht, Ausbeutung, Rechtsterrorismus und rechtem Gedankengut. Da haben wir sicher alle noch Hausaufgaben zu erledigen. Haydı, άντε πάμε.

 

Die Autorin:

Sofia Leonidakis wurde 1984 in Überlingen geboren, Studium Politikmanagement (BA) und European and World Politics (MA) in Bremen und in Istanbul/Türkei. Von 2008 bis 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin für Soziales, Migration, Kinder/Jugend und Umwelt/Energie bei der Fraktion DIE LINKE in der Bremischen Bürgerschaft bzw. der Abgeordnetengemeinschaft der Fraktion DIE LINKE in der Bremischen Bürgerschaft. 2014 Kandidatin für das Europäische Parlament auf Listenplatz 9 für DIE LINKE und 2015 Wahl zum Mitglied der Bremischen Bürgerschaft, 2019 Wiederwahl.Seit 2017 Mitglied im Bundesparteivorstand der LINKEN.


https://www.sofia-leonidakis.de

 

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