Anfang September war der Pianist Igor Levit zu einem Solokonzert im Rahmen des »Musikfest Bremen 2024« in der Bremer »Glocke« zu Gast. Es muss Levits Auftritt ein recht ungezähmtes Publikum aus dem Saal begleitet haben, dass es sogar dem Rezensenten des Weser Kurier dermaßen erwähnenswert war, dass er die akustischen Beeinträchtigungen durch Hustenanfälle, schneidende Handy-Klingeltöne, ein in hohen Tönen fiepsendes Hörgerät oder ungehemmte lautstarke Unterhaltungen zum Anlass nahm, diese Obstruktionen die Titelzeilen seiner Kritik bestimmen zu lassen:
Dieses sehr spezielle Ambiente bewegte nach dem Abend ebenso manche Besucher und Besucherinnen des Konzerts, sich mit Leserbriefen Luft zu machen. Eine Zuhörerin fügte in ihrem Brief ein weiteres Detail einer olfaktorischen Störung bei, ich zitiere: »In direkter Nachbarschaft litt eine Zuhörerin oder ein Zuhörer unter übel riechenden Blähungen, denen freien Lauf gelassen wurde.«
Gestern besuchte ich mit einem guten Freund in der »Gondel« den wunderbaren Film »Cranko« von Joachim Lang und mit Sam Riley in der Rolle des großartigen Choreographen John Cranko (1927 --1973), den ich jedem, ein Herz für Tanz, Theater, und Kunst hat, wärmstens empfehlen möchte. Auch unter dem Aspekt, welchen Realitäten und welcher Diskriminierung ein homosexueller Mann in den 60er, auch noch in den 70er Jahren ausgesetzt war. Ein gesellschaftlich feindliches Ambiente, dem auch ich mich eingekesselt fühlte, bevor mir inmitten einer schon freundlicheren Umgebung mein Coming-out anfing zu gelingen.
Nach dem Kinobesuch hatte mein Freund K. mich noch zu einem sehr schmackhaften Nudelessen bei sich zu Hause eingeladen, und wir kamen auf das Levit-Konzert und dessen Begleitumstände zu sprechen. Denn K. hatte die Glocke an dem Abend besucht und schilderte den »Lärm« des Abends in ganzer und breiter Ausschmückung.
Saalverweis? Rote Karte? Um ein Haar...
Nicht um jemanden in Schutz zu nehmen, aber wohl jeder und jede hat es sicher schon einmal erlebt, dass ihn oder ihr - wie sollte es anders sein, natürlich an der leisesten Stelle eines Vortrags - während eines Konzertabends der Hals kratzt, trocken wird, man dann denkt, oh nein, hoffentlich muss ich jetzt nicht husten; aber gerade dann passiert's, und man will im Boden versinken.
So passierte es mir an einem 3. Dezember des Jahres 2006, ebenfalls in der »Glocke«. Ich besuchte mit meiner Schwester einen Liederabend mit Thomas Quasthoff (am Piano: Charles Spencer). Wir saßen in der ersten Reihe, im wahrsten Sinne des Ausdrucks zu Füssen des Baritons.
Und plötzlich begann sich in meinem Hals zu regen, er wurde trockener und trockener, es schoss mir glühend heiß durch den Kopf: »Bitte, bitte, bitte jetzt nicht husten!!!«. Diese Gedanken waren aber die falschesten, die ich mir in dem Moment machen durfte --- ich begann zu husten!
Obendrein im Zusammenspiel mit dem Ausklang eines der 16 Lieder von Robert Schumanns Zyklus der »Dichterliebe«. Umso schlimmer, hatte man doch schon mehrfach davon gehört, dass Quasthoff es so ganz und gar nicht abkonnte (was ihm ohne Einschränkung zugestanden sei), dass man seinen Gesang dergestalt störte.
Er blickte mit seinem wohl ärgerlichsten, strengstem Gesicht zu mir herunter und verbat sich meinen Hustenanfall. Wozu ich mehr als bereit war, es wurde nur mit jedem erneuten Ausbruch nur noch schlimmer. Und Quasthoff sang nicht weiter und drohte mit dem Abbruch des Abends, wenn ich nicht sofort zu husten aufhörte. Seine Strenge wirkte, noch zwei, drei Male stieß ein Röcheln aus meinem Hals, leiser werdend, und die »Dichterliebe« das konnte weiter gesungen werden.
Zum Ende des ersten Teils des Abends und auch des zweiten, der dann mit Liedern von Johannes Brahms, grinste Quasthoff inmitten des Applauses freundlich-verschmitzt zu mir herunter. Ich verzieh’ ihm umgehend meine öffentliche Bloßstellung vor versammelten Auditorium, mich wohl tröstend, dass eine solche Sache jeder anderen Person im Saal auch hätte passieren können, und nicht viel anders hätte der Meister auch diese zurechtgewiesen.
Hier ist die Geschichte noch nicht zu Ende
Bei eingangs beschriebenem Beisammensein mit K. fiel mir jener Konzertabend ein, der so viel dramatischer hätte enden können. Und ich berichtete von dem dramatischen Zwischenfall. K. sah mich an und rief: »DU WARST DAS!!!???«. Er hatte tatsächlich in dem gleichen Konzert gesessen, ein paar Reihen weiter hinten und ohne dass weder er noch ich wussten, dass wir im gleichen Konzert, im gleichen Saal saßen. Auch zum Ende sahen wir uns nicht, ebenso wenig danach, bevor ich wieder in meine damalige Heimatstadt Barcelona zurückflog.
Nun mussten tatsächlich fast achtzehn Jahre vergehen, bevor wir entdecken durften, dass wir ein weiteres Mal uns im gleichen Konzert befanden, ohne es zu wissen. Das erste Mal geschah noch einmal ein paar Jahrzehnte früher, wohl im Jahr 1970, als wir beide ein Open-Air-Konzert auf Sylt besuchten, das dann aber wegen strömenden Regens und eines Orkans abgesagt werden musste, und zu dem auch die angekündigte Band »Black Sabbath« am Ende auch nicht auftrat.
Der Teufel ritt mich dann doch im nächsten Morgen und ich begann, nach journalistischen Spuren in den virtuellen Katakomben des historischen Archivs des Weser-Kurier zu fahnden, die möglicherweise von dem Quasthoff-Abend berichteten. Ich wurde fündig - ich stieß auf die Rezension des unbestechlichen jahrzehntelangen WK-Kulturredakteurs (1962-1990) Simon Neubauer, der erst vor zwei Jahren im hohen Alter mit 98 Jahren starb. Und hier konnte ich mich nach 18 Jahren wiederentdecken:
»Thomas Quasthoff, nach wie vor sehr allergisch gegen die Huster im Saal, gab sich am Ende versöhnlich, bewies seine oft gerühmte Qualität als Unterhalter.«
Ein weiterer Hustenanfall...
... überraschte mich dann noch einmal, knappe zehn Jahre nach dem Quasthoff-Erlebnis, der allerdings längere und weitreichendere Folgen haben sollte. In der zweiten Nacht nach einem gut verlaufenen operativen Eingriff soll ich einen starken Hustenanfall bekommen haben, in dessen Folge meine Operationsnarbe aufplatzte und die Sache mit einem Multiorganversagen endete. Nach um die drei Wochen im künstlichen Koma, insgesamt zweieinhalb Monaten, an die ich keinerlei Erinnerung habe, nach vier Monaten in der Neurologie und drei Monaten in der Reha, kam ich im Rollstuhl nach Hause. All das, nachdem mein Mann Hartmut und ich nach 30 Jahren Leben und Arbeit in Barcelona gerade wieder nach Bremen, in meine Heimatstadt, zurückgezogen waren.
Heute geht es mir gut und mit großer Freude pflege ich meine vielen Erinnerungen und manche davon halte ich hier in meinem Blog fest.
Und im Übrigen:
Am 9. Januar 2025 kehrt Thomas Quasthoff in die »Glocke« zurück, zur Feier seines 50-jährigen Bühnenjubiläums. Er tritt mit seinem Quartett auf: Dieter Ilg (p), Wolfgang Harfner (kb) und Simon Oslender (perc.), die alle drei zu den exzellentesten Jazzmusikern Deutschland gehören. Karten sind noch zu haben: Link.
Vielleicht komme ich auch dazu... Wenn ja, dann aber wieder in der ersten Reihe...
Weblinks:
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