… kann ich sein, wo es um Bücher geht. Und zwar um solche, die es einmal gab und dann aus welchen Gründen auch immer wieder von der Bildfläche verschwinden. Das hat die verschiedensten Ursachen. Gerade heute sind es allerdings ausschließlich meist ökonomische Aspekte, dergestalt, dass die Titel aus den backlich fallen, wenn die Verkäufe – das besonders prägt die Politik der großen Verlage und Verlagsgruppen – innerhalb der ihnen vorgegebenen Frist nicht die Umsätze erbringen, die man im Sinn hatte oder die sie in der Zukunft voraussichtlich auch nicht mehr versprechen werden können.
Anderen Büchern – auch gerade im Falle von eher kleinen Auflagen – ist oft genug in Ermangelung von weiteren Käufern als die, die schon die erste Ausgabe kauften, keine weitere Chance gegeben; vielleicht hatten sie noch mit sehr viel Glück eine zweite, dritte oder weitere Nachauflage schaffen können, aber das sind eher Ausnahmen. Umso bedauerlicher ist es oft genug, wenn man dann solche Bücher nicht mehr finden kann, oder mit Glück nur noch im antiquarischen Buchhandel, der sich bedauernswerterweise heute fast ausschließlich im Online-Handel abspielt. Stiefkinder des publishing.
Aber dann gibt es doch immer wieder gibt es Verlage, es sind die aus dem Independent-Milieu, die sich an verlorengegangene verlegerische Juwelen erinnern und die diesen eine zweite Chance geben. So geschehen 2020: im Münchner Verlag Antje Kunstmann publizierte man ein Buch, das 1964 erstmals (und ohne weitere Nachauflagen) beim S. Fischer Verlag erschienen war, es hatte den Titel Die Kinderbuchbrücke und war verfasst von Jella Lepman, der Gründerin der Internationalen Jugendbibliothek München · IJB.
Die Fischer-Ausgabe hatte damals einen Umfang von 210 Seiten, versehen mit einem Vorwort von Carl Zuckmayer, die Neuausgabe umfasst hundert Seiten mehr und ist außerdem mit vielen, bis dahin wenig bis gar nicht bekannten Fotografien versehen. Herausgegeben von der IJB und durch ein Vorwort eingeleitet von Christiane Raabe, seit 2007 die Direktorin der IJB, alles unter der Mitarbeit von Anna Patrucco Becchi, deutsch-italienische Literaturagentin, Übersetzerin von deutschen, niederländischen und englischen Kinder- und Jugendbüchern und Mitglied des Vorstands des Arbeitskreises Jugendliteratur · AKJ. Becchi schrieb auch das informative und die Lepman-Autobiographie nützlich und erhellend ergänzende Nachwort „Die vielen Leben der Jella Lepman“.
Der Kunstmann-Ausgabe werden weiterhin umfangreiche Anmerkungen zum Originaltext der Autorin beigefügt und – fast selbstredend möchte ich fast sagen, aber worauf heutzutage meist aus Kosten- oder Arbeitsersparnis gerne verzichtet wird - das obligatorische Namensregister. In festem Einband gebunden ziert die Edition auf der Vorder- und Rückseite eine der originellen Illustrationen der bekannten Kinderbuchillustratorin Rotraut Susanne Berner, eine Parade von aus vielen Kinderbüchern bekannten oder entsprungenen Gestalten, unter anderem macht darin Pippi Langstrumpf einen Handstand auf Pinocchios langer Nase, Le Petit Prince schaut um die Ecke, Alice in Wonderland ist dabei, Max & Moritz selbstredend ebenso und über allen fliegt Carlsson vom Dach. Darauf muss man erst einmal kommen!
Ich blende an dieser Stelle den Wortlaut des Klappentextes der erwähnten ersten Ausgabe ein, der so angemessen blumig den Inhalt des Buches beschreibt, im Stil eben, wie man in jenen Jahren solche Texte verfasste. Aber ich meine, er beschreibt mit der angebrachten Einfühlsamkeit den Wert dieses Buches und des politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Verdienstes seiner Autorin:
Dies ist der Bericht von einem bedeutenden Friedenswerk, ein menschliches Dokument und die Geschichte eines modernen Abenteuers. Zur Beraterin für die kulturellen und erzieherischen Belange der Frauen und Kinder in der amerikanischen Besatzungszone« berufen, kehrte Jella Lepman aus England in das zerstörte Deutschland zurück. Sogleich erkannte sie als vordringliche Aufgabe die Hilfe für die Kinder, die Notwendigkeit, ihnen nicht nur Kleidung und Nahrung zu geben, sondern Anregung des Geistes und der Phantasie, die Anschauung einer rechten Wirklichkeit und das Märchen. Das Kinder- und Jugendbuch erschien ihr als das beste Instrument einer in ihrer Methode selbst freien Erziehung zur Freiheit und, darüber hinaus, einer Verständigung der Kinder aller Völker. Unerschrocken ging Jella Lepman ans Werk. Die Journalistin wurde zur Organisatorin, mit Beharrlichkeit und List überwand sie tausendfache Schwierigkeiten und bürokratische Hindernisse, mit glühendem Eifer erfüllte sie eine Mission.
Am 1. Juli 1946 fand die Eröffnung der Internationalen Jugendbuchausstellung statt - in München, im gereinigten ‚Haus der Kunst‘: es war die erste internationale Veranstaltung im Nachkriegsdeutschland. Die Ausstellung wanderte in andere deutsche Städte, in Berlin sprach ein Kind: »Da ist der Friede.« Mit der Gründung und dem Ausbau der Internationalen Jugendbibliothek setzte Jella Lepman gegen vielerlei Widerstand neue Prinzipien und Einrichtungen durch: Freihandsystem, Lesungen, Diskussionen, Theateraufführungen und ein Malatelier der Kinder, - ein großes Gespräch der Jugendlichen über die Staatengrenzen hinweg. In Zürich konstituierte sich das Internationale Kuratorium für das Jugendbuch, Jella Lepman trug ihre Idee und ihre Praxis in die Entwicklungsländer. Sie erzählt ihre Erlebnisse und Erfahrungen mit der lebensfreudigen Unbefangenheit, die ihr Tun auszeichnete.
Übrigens war es auch Jella Lepman, die Erich Kästner, mit dem sie gut befreundet war, anregte, Die Konferenz der Tiere zu schreiben, seinen ersten Roman nach dem Ende des 2. Weltkrieges, der 1949 im Züricher Europa Verlag erschien, natürlich mit den Illustrationen von Walter Trier (1890 - 1951).
So kann abschließend festgestellt werden, man hat diesem Buch bei Kunstmann mit Fug und Recht einen neuen Platz geschenkt. Dazu in einer Ausgabe, die man "gerne in der Hand hält", wie eine altherbrachte bibliophile Qualitätsbezeichnung eine gut bis hervorragend gestaltete und hergestellte Ausgabe lobt, das obendrein nach wie vor eine stimulierende Wirkung hat, sich für die Leseförderung junger Leser stark zu machen und um es damit dem Impetus einer Jella Lepman gleich zu tun.
Das meinte ebenso die kürzlich verstorbene Autorin Sybil Gräfin Schönfeldt über Die Kinderbuchbrücke in ihrer Rezension vom Oktober 2020 in der Süddeutschen Zeitung:
Nachtrag 24. Mai 2023:
Der mittlerweile weltbekannte Jugendbuchautor und Schöpfer der beiden schon klassisch zu nennenden Kinderbuch-Helden Rico & Oscar, der Biedenkopfer Autor, Drehbuchschreiber und Regisseur Andreas Steinhöfel hat gerade einen 45-minutigen Dokumentarfilm über Leben und Werk von Jelle Lepman fertiggestellt, der heute in der IJB uraufgeführt wurde. Die Produktionsfirma sad ORIGAMI Produktions-GmbH ist nun auf der Suche nach TV-Anstalt für die Ausstrahlung dieses wert- und sinnvollen Features.
Am Rande
Eine Kuriosität aus meiner eigenen Biographie: mein Vater organisierte jährlich an den Adventssonntagen Ausstellungen von Kinder- und Jugendbüchern in verschiedenen Bremer Grundschulen, bei denen die Kinder in den Büchern stöbern konnten und die Eltern sie für Weihnachten kaufen konnten. Also praktische Lese- und natürlich auch Umsatzförderung. Heute würde man das eine Win-Win-Situation nennen. Das Foto zeigt mich 1964 an der Seite meines Vaters in der Schule Bremen-Rablinghausen (ausgerechnet ist es das Jahr, in dem die erste Ausgabe des Buches erschien, das hier besprochen wird). Keiner, am wenigsten ich, auch mein Vater nicht, ahnte damals, dass ich irgendwann selbst einmal als Quereinstiger Buchhändler werden würde und in Folge Literaturagent (als ein solcher ist man eigentlich auch ein Buchhändler). Ich weiß, dass es meinen Vater sehr gefreut hätte, leider hat er beides nicht mehr erleben können, er starb 1978.
Weblinks:
Reaktionen:
»Mein Freund Guenter Guenny Rodewald hat einen ganz tollen Bericht über die neue Ausgabe der "Kinderbuchbrücke" von Jella Lepman geschrieben, an der ich unter Herausgabe der IJB (der Internationalen Jugendbibliothek in München) mitgearbeitet habe. Es lohnt sich ihn zu lesen!« - Anna Patrucco Becchi, Literaturagentin und Übersetzerin, Genua
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