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  • AutorenbildGuenter G. Rodewald

Sieben auf einen Streich……

Aktualisiert: 28. Mai 2022


… waren wir am Ende des Abends – mehr Leute waren am vergangenen Mittwoch nicht zusammengekommen, um auf dem Kulturschiff MS Loretta an der Bremer Schlachte Pier nº 4 die Lesung des Hamburger Autors, Musikers und Musikproduzenten Johann Scheerer zu erleben. Denn außer dem Protagonisten waren außer mir nur noch zwei weitere zahlende Gäste gekommen. Daneben waren im Zuschauerraum Anna anwesend, die den Abend betreute, der Tonmeister Lucas und Alexandra Rempe von der Buchhandlung Storm, die bis zum vorzeitigen Ende der Veranstaltung die Hoffnung nicht verloren hatte, doch wenigstens noch ein einziges Buch zu verkaufen, zumal sich der Autor vom spärlichen Publikum zugegebenermaßen etwas übermütig gewünscht hatte, dass mindestens vier seiner Bücher an dem Abend verkauft werden sollten.


Daraus wurde nichts, denn ich selbst war schon lange im Besitz beider Scheerer-Titel, sein erstes Buch sogar in doppelter Version, einmal gedruckt und einmal von ihm vortrefflich selbst vorgelesen - das Audiobook hatte es seinerzeit sogar unter die drei Nominierungen für das beste Deutsche Sachhörbuch 2019 geschafft.


Und der zweite zahlende Gast war „nur“ gekommen, weil er das Buch von Scheerers Vater - Jan Philipp Reemtsma: „Im Keller“, also dessen eigenen Bericht über seine Entführung im März 1996 - gelesen hatte; auch nicht gerade sehr charmant, dieses Teilnahmemotiv dem Gast des Abends zu präsentieren. So viel inneren, persönlichen und zwingenden Zusammenhang Scheerers Veröffentlichungen auch mit jenem Verbrechen zu tun haben. Und der dritte der Besucher fühlte sich offensichtlich auch nicht ausreichend motiviert, sich eines der beiden Bücher zur Lektüre anzuschaffen, obwohl er sie beide noch nicht kannte, wie er „gestand“.


Johann Scheerer schien doch einigermaßen entsetzt über solch eine knapp bemessene Zuhörerschaft, die sich da in dem eher düsteren, wenn auch mit viel rotem Licht ausgeleuchteten Bauch des 30 Meter langen Frachtschiffs zusammengerottet hatte. Auf seiner bisherigen Tournee durch bis dahin sechs Städte (weitere sieben werden noch folgen – siehe am Schluss dieses Beitrags) konnte er glücklicherweise vor wesentlich besser besuchten Auditorien auftreten.

Diese intime Gemeinschaft saß da also in diesem kleinen Saal, dessen Ambiente durchaus an eine dieser Hafenkneipen erinnert, die es in Bremen in den Hafenvierteln einmal gab. Im ehemaligen Stauraum des für Binnengewässer und den küstennahen Bereich 1913 gebauten Steamers, der vor einigen Jahren zum Event-Ship umgerüstet worden war, fünf Jahre im Celler Stadthafen gelegen und im vergangenen Jahr an Bremens maritimer Event- und Gastronomiemeile festgemacht hatte. Dort wird er seitdem mit seinem „rauen, dunklen und kantigen Programm“ (Zitat: Homepage | MS Loretta) bespielt, mit viel Musik, Literatur, Theater, Kunst, für Feiern kann man das Schiff mieten, nur auf Fahrt geht es nicht mehr. Das alles “gegen den Strom und jenseits des Mainstreams” (Zitat: dito) und unter der Ägide – wie schon in Celle - vom rührigen und engagierten Arnold Wachtendorf als Veranstaltungskapitän.


Insofern passte Johann Scheerer bestens in das Repertoire der MS Loretta, seit früher Jugend macht er selbst Musik, als Texter, Komponist und Bandleader, aber vor allem auch mit seinem Recording Studio und Label Clouds Hill als international anerkannter und aktiver Musikproduzent mit einer wahrhaft spannenden Client List. Aber seit 2016 kennt man ihn eben auch als Autor.


Nämlich von Wir sind dann wohl die Angehörigen. Die Geschichte einer Entführung (Piper Verlag München 2018). Darin beschreibt er aus Sicht des einzigen, damals 13-jährigen Kindes von J.P. Reemtma und seiner Frau, der Psychoanalytikerin Ann Kathrin Scheerer, eines jungen pubertierenden Jugendlichen also, die spektakuläre Entführung und 33 Tage dauernde Gefangennahme im Keller eines einsam gelegenen Familienhauses in Garlstedt (keine 30 km von Bremen entfernt…).


Im gut zwei Jahre später erschienenen Unheimlich nah (Piper Verlag, München 2020), den Scheerer bereits Roman bezeichnet, kommt er dennoch nochmals wieder auf seine Erfahrung als mittelbares Opfer des Verbrechens zurück, aber verkoppelt die Geschichte bereits mit fiktiven Elementen.

Aus beiden Werken wollte Scheerer an dem verqueren Abend an Bord dennoch einige wenige Stellen lesen und ein, zwei seiner Songs zu seiner Konzertgitarre spielen. Ein Kurzprogramm also gewissermaßen. Er las dann aus Unheimlich nah zwei Seiten von ganz am Anfang des Buches, auf denen er schildert, wie er mit seinen Eltern im Taxi durch New York fährt, wohin die drei (natürlich in Begleitung von Personenschützern) sehr bald nach Freilassung des Vaters geflogen (geflohen) waren.


Und sang noch einen seiner frühen Songs, dann brach er aber unvermittelt ab und sagte, er könne das nicht, hier vor so wenigen Leuten in einer doch recht absurden Situation weiterzumachen. „Das wird mir zu intim“, sagte er. Wir wechselten dennoch noch einige Worte mit ihm, in denen er unter anderem auf das Problem zu sprechen kam, was in der Zeit nach dem Abschluss der Arbeit der Ermittlungsbehörden und der Gerichte geschehe, nämlich die Traumata und das weitere Leben der Opfer von Verbrechen.


Ich konnte ihm den abrupten Abbruch seines Auftritts keinesfalls übelnehmen, andere der Anwesenden empfanden das wohl anders. Aber Johann packte seine Gitarre in den verschlissenen Kasten, verabschiedete sich von allen mit kräftigem Handschlag und verließ das Schiff, um mit seinem Wagen nach Hause, nach Hamburg zu fahren.


Wir anderen blieben noch eine kurze Weile, wurden zu einem Loretta-Trostbier eingeladen, bis auch ich mich wieder auf mein Dreirad schwang, um über die reichlich besuchte Weserpromenade auch meinen Heimweg anzutreten.


Wenn ein solcher Abend so katastrophal und beschämend knapp besucht verläuft, fragt man sich dann doch, was denn eigentlich aus den Kulturinteressen der Bremer geworden sein könnte. Sind es doch noch die Folgen der zwei Jahre langen pandemischen Abkapselungen von Kulturevents? Ich fürchte ja.


An den Bemühungen der Mobilisierung durch den Veranstalter kann es jedenfalls nicht gelegen haben. Seine Presseinfos zu der Lesung sind an alle relevanten kulturellen Nachrichtenmedien der Stadt und umzu gegangen. Ob sich diese alle ausreichend darum kümmern, diese dann auch zu verbreiten, hinterlässt bei mir gewisse bis beängstigende Zweifel. Macht sich doch gerade der Kulturteil des Weser-Kurier immer wieder mehr zum Multiplikator der Marketingabteilungen der hochkommerziellen Film- und Musik-Produzenten, der großen Publikumsverlage, und selten mit dem Blick auf das independent, das freie Kulturgeschehen der Stadt. Ähnliche Tendenzen zeichnen sich bei Bremens ARD-Radioanstalten ab.


Wir müssen selbst wieder zurückfinden und schnellstens die verdreckten logdownigen Klamotten ablegen und wieder raus auf die Straße und in die Säle kommen!


In diesem Sinne äußert sich auch Johann Scheerer in einem Video, das gestern– drei Tage nach dem Fauxpas auf der MS Loretta - via seiner Social-Media-Kanälen online gegangen. See and listen:

Zum Schluss sei noch vermeldet, dass Johann Scheerer am Abend angekündigt hat, dass ein weiterer Roman in der Vorbereitung stecke, Ende des Jahres werde er sich daran machen. Darauf freue ich mich und bin schon sehr gespannt – vor allem, weil er nicht mehr das Thema der Entführung beinhalten werde. Denn schreiben kann Scheerer, das hat er mit seinen zwei bisherigen Publikationen bereits unter Beweis gestellt.


Gute Nachricht ebenso, dass auf Basis von Scheerers erstem Buch ein Film entstanden ist (Regie: Hans-Christian Schmid), der im Oktober dieses Jahres unter dem gleichen Titel Wir sind dann wohl die Angehörigen (Pandora Film) in die Kinos kommen wird.


Und sollte man den Autor nach diesem Abend des 18. Mai 2022 dann noch einmal bewegen können, uns in Bremen nach Erscheinen seines dritten Buches oder sum Start des Films zu besuchen, werde ich alles in meinen bescheidenen Möglichkeiten versuchen, dass dann ein paar mehr Zuhörer und Zuschauer kommen und diese sogar einige seiner Bücher kaufen werden!


Versprochen!

 

Weblinks:

Die weiteren Tourneedaten:

 

Reaktionen:

  • »Wie schön, dass Du Dich diesem komischen Abend noch einmal so ausführlich widmest. Der Text gefällt mir gut.« - Johann Scheerer - Hamburg

  • »Mittlerweile habe ich es auch geschafft, mir Deinen Blog anzuschauen. Hut ab, klasse geschrieben - und davon verstehe ich ein bisschen was... Wir fühlen uns wahrlich geehrt, mit einem solchen Text verewigt zu sein. Zumal aus diesem so viel Herzblut und Empathie für unser Projekt spricht. Das ist nicht eben alltäglich. Ganz herzlichen Dank dafür.« - Myriam & die Loretta-Crew

 

Wenn Du willst, kannst Du mir gerne Deinen Kommentar schicken, und zwar an diese Mail-Adresse: blog.guenny@mercadodelibros.info.

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