Dieser Tage hatte ich das Vergnügen, die Künstlerische Leiterin des Musiktheaters am Theater Bremen, die Dramaturgin Brigitte Heusinger, kennenzulernen. Wir kamen in unserem Gespräch bald auf Vergangenes, und zwar auf Erinnerungen an die Ära der Intendanz von Kurt Hübner am Theater am Goetheplatz (1962-1973). Frau Heusingers Erinnerungen reichen eher zurück in die 70er-Jahre, meine dagegen sind früher, von 1963 bis 1969, die ich als Chorknabe in Giacomo Puccinis ‚Turandot‘ begann und mit der Spielzeit 68/69 als vielbeschäftigter Statist und Klein(st)darsteller beendete, als ich nach meinem Abitur die Stadt zum Studieren Richtung Kiel verließ. Aus diesen Jahren habe ich schon das eine oder andere Mal auf diesem Blog etwas berichtet (siehe unten in den Weblinks).
Gestern erreichte mich via Facebook eine Anzeige vom Theater Bremen und deren Suche nach Tänzern und Tänzerinnen, die Frau Heusinger für die Produktion des Musicals ‚Hello, Dolly!‘ in der kommenden Spielzeit des Musiktheaters benötigt. Ich musste lachen, weil in dem erwähnten Gespräch die Frage aufkam, ob ich nicht mal wieder Lust verspürte, als Komparse auf die Bühne des Theaters am Goetheplatz zurückzukehren. Ein Angebot, das ich aber aufgrund meines physischen Handicaps ablehnen musste, wenn ich auch gestehen muss, dass ich mich auch ein wenig geschmeichelt fühlte…
Aber als ich jetzt das Gesuch nach den Tänzern las, kam mir eine Erinnerung aus dem Jahre 1968 wieder in den Sinn: denn damals kam dieses Musical schon einmal am Bremer Theater zur Aufführung, übrigens nur vier Jahre nach seiner Uraufführung am New Yorker Broadway und auch nur zwei Jahre nach seiner Deutschen Erstaufführung am Schauspielhaus Düsseldorf (in der Regie von keinem geringeren als Jean-Pierre Ponnelle).
Die Bremer Dolly, damals noch mit dem eingedeutschten Titel ‚Hallo Dolly‘ (auch ohne Komma und Ausrufezeichen…), stand unter einem unglücklichen Stern: sie war von dem Dresdner Regisseur Erich Geiger (1924-2008) begonnen worden, aber nach einem Streit während der Probenarbeit trennte man sich von Geiger und die Produktion wurde von Rolf Becker, damals Oberspielleiter der Oper, zur Premiere gebracht.
Ich hatte als Statist die Rolle eines mit einem Frack livrierten Hotelboys bekommen, der im zweiten Akt auf einer Revuetreppe, die bis ganz hoch hinauf bis in den Bühnenturm reichte (Bühne damals: Karl-Ernst Herrmann!) an deren Ende ich – zusammen mit einem weiteren Statisten in gleichem Outfit - einen samtenen Vorhang zur Seite bewegen sollte. Und hinter dem Dolly auf die Treppe hinaustrat und den Titelsong Hello, Dolly! zu singen begann und nun Stufe für Stufe und Liedzeile für Liedzeile bis an den Fuß der Treppe hinabstieg, wo dann irgendwann der Song im Dialog mit dem Chor endete. Wir beiden Hotelboys mussten da oben in luftiger Höhe des Bühnenhauses bis zum nächsten Szenenwechsel ausharren.
Der Auftritt und der Abstieg der Dolly auf dieser Treppe grenzte schon recht gewagt an Artistik, denn die Treppe war hoch (ich weiß, wovon ich rede, stand ich doch schließlich ganz oben) und sie war nicht gerade breit, die Sängerin trug dazu extrem hohe Pumps.
Die Dolly wurde damals von der Schauspielerin Margaret Carl (1927-1978) gegeben, die nicht zum damaligen festen Ensemble gehörte, sondern als Gast engagiert war. Sie sang mit einigem Erfolg die Premiere am 1. April und einige der folgenden Aufführungen, bis es dann zu dem Eklat kam, bei dem Judy Winter (*1944) die Szene betrat, sie seit 1962 Mitglied des Bremer Ensembles.
Denn als bei einer der kommenden Aufführungen Frau Carl hinter dem Vorhang nach vorne auf die Treppe trat, merkten wir beiden Statisten sofort, dass etwas nicht stimmte – die Dolly schwankte gefährlich, so dass wir sie beide – mit dem Versuch, ihren wackeligen Gang zu kaschieren – rechts und links unter den Arm fassten, und mit ihr begannen, die – dazu geländerlose! – Treppe hinabzusteigen.
Sobald sie aber die ersten Töne des Titelsongs anstimmte, erkannten wir definitiv den Grund ihres unsicheren Gangs: sie bekam kaum ein Wort heraus, noch traf sie die Töne, schlichtweg: sie war sternhagelbetrunken! Das Publikum lachte zunächst, weil es wohl vermutete, es sei ein Gag, man war mittlerweile einiges an schwerwiegenden Eingriffen in die Werke der Weltbühnenliteratur durch das Hübnersche Theater gewönnt, die bereits vorher schon auch vor Operetten und Musicals keinen Halt gekannt hatten.
Aber auf der Bühne war den Darstellern – den Solisten, wie den Choristen und Tänzern und Tänzerinnen des Balletts – schnell klar, was sich da auf der Revuetreppe zusammenbraute und man es sehr bald unten vom Pult des Inspizienten (ich meine, es war der unvergessliche Sieghold Schröder) rufen hörte: „Vorhang zu! Vorhang zu!“, was dann auch sehr rasch geschah.
Dann geschah alles in Windeseile. Ich meine mich zu erinnern, dass es Kurt Hübner selbst war, der wohl schnell gerufen worden war oder der auf seinem Stammplatz auf dem linken Balkon des 1. Rangs saß, von wo aus er sich gerne und häufig „seine“ Produktionen ansah, und von da das Malheur hatte kommen sehen.
Jedenfalls wurde dem Publikum von ihm verkündet, Frau Carl wäre unpässlich, die Aufführung würde aber nach einer kurzen Pause an gleicher Stelle, aber nunmehr mit Judy Winter in der Rolle der Dolly fortgesetzt.
Judy Winter spielte in der Produktion bereits die Rolle der Irene Molloy, hatte aber von vornherein auch die der Dolly als alternierende Besetzung einstudiert und geprobt. So hingen in der Garderobe bereits für die auf sie zugeschnittenen Kostüme, somit war sie schnell umgezogen, umgeschminkt und fuhr mit uns beiden – nun also auch als ihre Liftboys – mit dem Bühnenfahrstuhl in die obere Galerie und alles „Auf Anfang!“ ging es weiter mit dem Theaterabend: die Winter schmetterte ihr „Hello, Dolly“, stieg ausgesprochen sicher die Treppe hinab, wir blieben - so wie ursprünglich einstudiert – oben stehen, der Song wurde zu Ende gebracht und die Winter mit einem donnernden Publikumsapplaus belohnt, in den auch alle auf der Bühne Stehenden einfielen.
Der Abend war gerettet, alle folgenden Vorstellungen des Musicals ebenfalls.
Judy Winters Karriere als Musical-Star fand dann schon im Oktober des gleichen Jahres ihre erfolgreiche Fortsetzung, nämlich in der Titelpartie von ‚My Fair Lady‘. So schwärmte Simon Neubauer in seiner Rezension der ‚My Fair Lady‘ im Weser-Kurier vom 18.10.1968 geradezu von der Darstellung Judy Winters in der Rolle der Eliza Doolittle:
„Judy Winter hat stimmlich enorm viel gelernt. Zwar klingt die Höhe immer noch ein bisschen dünn, aber solche Schwächen überspielt die Künstlerin mit der Potenz ihrer Persönlichkeit. Gerade durch ihre Präsenz in den rasch wechselnden Gefühls- und Lebenslagen rückt Judy Winter in den Mittelpunkt der Aufführung, zumal sie beim Aufstieg von der lamentierenden Rinnsteinpflanze zur selbstwussten, menschlich reifen Lady Eliza alles nachzuempfinden und sehr variabel zu gestalten weiß, was dazu nötig ist: ordinären Berliner Slang, kreischende Kratzbürstigkeit und Schlagfertigkeit, den Unmut der Gequälten, Gemüt und Damenanmut.“
So entsteht Theatergeschichte…
Und zum Einstimmen auf die neue Inszenierung am THEATER BREMEN (geplante Premiere 25. November 2022 - >>> Link) hier schon mal vorweg eine historische Kostprobe:
Weblinks:
Kurt Hübner. Das Theaterungeheuer:
Ein spätes Wiedersehen. Mein Briefwechsel mit Kurt Hübner:
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