Unbestritten zum Kanon der Bücher, die mich in meiner Leser-Biographie geprägt haben, gehören die Erinnerungen der 1909 in Hamburg geborenen Literaturagentin Ruth Liepman, die erstmals 1993 unter dem Titel Vielleicht ist Glück nicht nur Zufall veröffentlicht wurden. Ihre Erinnerungen verfasste Ruth Liepman erst mit 83 Jahren, nachdem man sie lange dazu gedrängt hatte. Vielleicht war sie viel zu bescheiden und in persönlichen Belangen zu zurückhaltend, aber dass sie sich dann doch noch dazu durchgerungen hat, beschert uns dieses beeindruckende Dokument von Mut, Widerstand, Aufrichtigkeit, Authentizität und Frauenpower, obwohl ihr diese letzte Wortwahl ihr sicher so nicht gefallen hat, aber dieser Charakterisierung hätte sie dennoch wohl nicht allzu vehement widersprochen.
Ich habe Ruth Liepman noch persönlich kennenlernen können, es war 1986 im Literary Agents Center der Frankfurter Buchmesse, die ich in jenem Jahr das erste Mal als Literaturagent-Novize besuchte, im Schlepptau meiner Meisterin Ute Körner (1939 - 2008). Viel früher hatte ich die Messe schon einmal erlebt, gewissermaßen noch an der Hand meines Vaters, irgendwann Mitte der 60-er Jahre muss das gewesen sein.
Ruth war damals trotz ihrer 77 Jahre durchaus noch aktiv als Agentin, wenn sie sich auch schon eher im Hintergrund hielt und ihre langjährigen Mitarbeiterinnen und seit 1981 Mitgesellschafterinnen in der Agentur, Eva Koralnik und Ruth Weibel, an der vorderen Linie agierten. Irgendwann in dieser Zeit begann ich auch in meiner Eigenschaft als gleichberechtigter Mitbetreiber von Ute Körner Literary Agent als Co-Agent der Liepfrauen in der spanisch- und portugiesischsprachigen Welt für sie zu arbeiten. Der erste Erfolg war damals eine spanische und brasilianische Ausgabe von Jan Philipp Reemtsmas Im Keller, die wir platzieren konnten. Später kamen dann u.a. alle Titel von Peter Stamm dazu, der damals wie heute der Liepman Agentur treu geblieben ist.
Fast ganz bis zum Ende ihres Lebens nahm Ruth Anteil am Leben ihrer Agentur; sie wohnte in der oberen Etage des Hauses im Maienburgweg am Zürichberg, mit einem wundervollen Blick auf den Zürichsee und die Berge. Sie wohnte über der Agentur, verbunden beide Stockwerke mit einer offenen Treppe, auf der - wohl in Ermangelung von entsprechendem Platz in Regalen, oben wie unten, Bücher standen, was denn sonst? So kam sie auch bis in ihre letzten Jahren nach unten und saß dann den ganzen Tag über "in ihrem weißen Sofa, ihrem eigentlichen Arbeitsplatz, mitten im Geschehen, immer mit einem Buch in der Hand, und immer stiller, in einer glücklichen, sorglosen Zwischenwelt", wie Eva Koralnik und Ruth Weibel sich erinnern.
Als sie im Mai 2001 im Alter von 92 Jahren starb, lag ein langes und ereignisreiches Leben hinter der "Grand Dame ihrer Profession", wie sie DER SPIEGEL in seinem Nachruf würdigte.
Geboren war sie am 22. April 1909 in Polch in Rheinland-Pfalz als Tochter des jüdischen Arztes Isidor Lilienstein. Die Familie zog kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs nach Hamburg, wo der Vater seine Praxis als Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten eröffnete. Sie wohnten am Schulterblatt, mitten im Schanzenviertel, in der Wohnung betrieb der Vater auch seine Praxis. Nach dem Krieg zogen sie in die Sophienallee in Eimsbüttel, die Praxis des Vaters blieb aber am vorherigen Wohnort.
Obwohl die Familie Lilienstein keine praktizierenden Juden waren, besuchte Ruth die Loewenberg-Schule, einer der führenden reformpädagogisch inspirierten Anstalten des höheren Mädchenschulwesens in Deutschland, gegründet und geleitet von dem jüdischen Schriftsteller und Pädagogen Jakob Loewenberg. Ruth schloss sich früh dem Blau-Weiß-Bund an, einer seit 1913 bestehenden jüdischen Jugendwanderbewegung, was ihre Eltern allerdings nicht so gerne sahen. Aber sie setzte sich auch schon damals gegen Widerstände durch. "Das hing auch damit zusammen, dass ich ein Einzelkind war und gern mit anderen Kindern spielen wollte", erinnert sie sich.
Erst als Ruth bereits elf Jahre alt war, wurde ihr erster Bruder Manfred geboren, noch einmal zehn Jahre später der zweite, Wolfgang Robert. "Da war ich bereits neunzehn Jahre alt, er hätte mein Sohn sein können", schreibt Ruth.
Später wechselt sie zur Lichtwarkschule, benannt nach Alfred Lichtwark , einem der Begründer der Museumspädagogik und der Kunsterziehungsbewegung sowie erstem Direktor der Hamburger Kunsthalle; eine Schule mit einem modernem Konzept ("heute würde man sie Alternativschule nennen", R.L.).
Diese Schulausbildungen haben Ruth Liepman sehr geprägt, spiegelt aber auch das liberale Ambiente ihres Elternhauses wider, das sie ihren Kindern angedeihen lassen wollten. Und dass sie in ihrem Alltag die Arbeit ihres Vaters aus großer Nähe mitbekam, beeinflusste ihr Leben und soziales Empfinden tiefgreifend, denn seine Patienten rekrutierten sich in weiten Teilen aus der Hamburger Arbeiterschaft, die damals noch in äußerst prekären Situationen lebten.
Als junge Frau schon bekam Ruth dann Kontakt zu der Kommunistischen Partei KPD und wurde ihr aktives Mitglied. Sie studierte an der Hamburger Universität Jura, erlangte ihr Erstes Staatsexamen, konnte noch für eine kurze Zeit ihr Referendariat antreten, aber bekam dann sehr bald nach der Machtergreifung durch die Nazis als Jüdin, aber natürlich auch wegen ihres politischen Engagement Berufsverbot.
Just an ihrem 25. Geburtstag am 22. April '34 verließ sie Deutschland ins Exil nach Holland, wo sie bis 1945 Unterschlupf fand und überleben konnte. Ihre Eltern und ihre Brüder konnten Deutschland noch 1936 verlassen, ihr Vater überlebte das Exil nicht sehr lange, er konnte zwar noch eine eigene Praxis eröffnen, aber er starb 1940 in New York, mit nur 57 Jahren. "Er hat den Druck einfach nicht ausgehalten", schreibt Ruth. Ihre Mutter lebte noch bis 1956.
In Holland arbeitete Ruth aktiv im Untergrund, unternahm lebensgefährliche Reisen als Kurierin nach Deutschland. 1940 heiratete sie den Schweizer Architekten Oskar Stock, es war eine reine Schutzheirat, denn durch sie genoss sie eine gewisse Protektion als Schweizer Staatsbürgerin.
Was aber nicht verhindern konnte, dass sie 1943 von Unbekannt verraten wurde, aber noch bei einer holländischen Familie, die zu ihrer zweiten Familie wurde, bis zum Kriegsende Unterschlupf finden konnte. Aber auch in diesen noch engeren letzten Jahren ihres Exils läßt sie sich nicht von ihrer Aktivität abhalten. Umso mehr schmerzt sie es, dass sie während ihrer Emigration von der KPD als Mitglied ausgeschlossen wurde, mit der sie immer auch ihre Auseinandersetzung hatte. Jede Art von Dogmatismus entsprach ihr nicht.
Im Winter 1945/46 kehrte sie das erste Mal nach Hamburg zurück, wo sie sehr bald den ebenfalls aus dem Exil zurückgekehrten Schriftsteller und Journalisten Heinz Liepman (*1905 Osnabrück - † 1966 Aragone, Tessin) kennen und lieben lernte und ihn 1949 heiratete. Durch Heinz' Aktivitäten in den USA hatte er viele Kontakte in die dortige publishing scene. So kam es, dass man ihm und Ruth bald antrug, für die in Deutschland lange verfemt gewesenen US-Autoren, wie J.D. Salinger , Norman Mailer oder F. Scott Fitzgerald und viele andere Verlage zu suchen, was ihnen - auch durch die neuen Kontakte, die sie schnell wieder in Hamburg aufbauen konnten - mit viel Erfolg gelang.
So gründeten die beiden ihre gemeinsame Agentur im gleichen Jahr 1949 (auch meinem Geburtsjahr!). Meines Wissens war sie wohl die erste deutsche Literaturagentur, denn traditionell verpflichteten sich die Autoren, und zwar mit all ihren Rechten, also auch ihren Auslandsrechten, für eine exklusive Zusammenarbeit - manche sogar fürs ganze Leben und darüber hinaus - ihren Originalverlegern. Gerade die deutsche Literaturgeschichte ist leider voll von zeitweiser bis lebenslanger und egoistischer einseitiger Ausnutzung dieser Abhängigkeiten seitens der Verleger.
So verstanden sich eben auch die Liepmans als Literaturagenten der angloamerikanischen Tradition, für die in vorderer Linie immer die Rechte der Autoren und Autorinnen versuchte zu verteidigen. Erst später begannen im deutschen Sprachraum weitere Agenturen ihre Aktivitäten, besonders in der Schweiz, Lothar Mohrenwitz in der ersten Hälfte der 1950er Jahre seine Agentur Mohrbooks oder die Agentur Paul & Peter Fritz, alle mit Sitz in Zürich, wie auch die Liepmans seit 1961.
In den 1980er Jahren gründen sich dann auch in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich und der Schweiz immer mehr Agenturen, eine der allerersten in Deutschland war in München die unermüdliche Lianne Kolf, auch sie eine solche "Mutter Courage ihrer Profession", wie das Börsenblatt einmal Ruth Liepman ehrend würdigte.
Heinz Liepman - "Heini", wie ihn Ruth liebevoll auch in ihren Erinnerungen ganz offenherzig nennt - widmet sich bald wieder seinen eigenen schriftstellerischen und journalistischen Aufgaben, so dass Ruth die Agentur bald auch in ihrer eigenen Regie weiter von Erfolg zu Erfolg führte, immer mit einem Höchstmaß an Ethik, Fairness - eben gerade auch den Verlagen gegenüber - und mit der bewundernswerten Gabe, Talente und deren Chancen zu entdecken, zu fördern und zu beschützen. Alles auch Eigenschaften, die ich persönlich bei meiner eigenen Meisterin, Ute Körner (1939-2008), kennenlernen und erlernen durfte, die Ruth auch sehr hochgeschätzt hat.
All diese Stationen ihres aufregenden, lange Zeit durch die Nazis bedrohten Lebens, ihr Wirken und wie sie ihren Beruf und Aufgabe als literarische Agentin verstand, schildert Ruth Liepman in großer Offenheit und mit vielen persönlichen Details. Ihre Aufzeichnungen entstanden in Gesprächen mit Helge Malchow, Verleger des Verlages Kiepenheuer & Witsch, der auch die erste Ausgabe des Buches 1993 publizierte.
Es ist ein großes Verdienst des umtriebigen Gräfelfinger Verlages edition fünf , 2011 eine Neuausgabe der lange vergriffen gewesenen Autobiographie ermöglicht zu haben, die in dieser neuen Ausgabe auch noch nach wie vor lieferbar ist und somit bedenkenlos zur Lektüre empfohlen werden kann. Ich kann und will meinen Stolz nicht verheimlichen, dass ich nicht ganz unschuldig an dieser Neuauflage war.
Die alte und neue Ausgabe unterscheiden sich leicht in ihren Nachworten, in den Anhängen und in den Illustrationen: in der alten Edition hatte noch Inge Marßolek (1947 - 2016) - Zeit- und Kulturhistorikerin und Professorin an der Universität Bremen - Historische Nachbemerkungen hinzugefügt, und in der Ausgabe von 2011 erinnern sich Eva Koralnik und Ruth Weibel an ihre Meisterin.
Noch eine kleine Merkwürdigkeit am Rande: Ruth Liepman starb am 29. Mai 2001 im hohen Alter von 92 Jahren, es war ein Dienstag. Mein Vater - Buchhändler und Antiquar in Bremen - starb ebenso an einem 29. Mai, und ebenso an einem Dienstag, allerdings schon im Jahre 1978 und leider auch sehr viel jünger, er wurde nur 65 Jahre alt. Beide zwei wichtige Personen in meinem Leben.
Seit 2013 wird die Liepman AG von Eva Koralniks Sohn Marc Koralnik geleitet und die Agentur erfreut sich nach wie vor bester Gesundheit und genießt das gleiche hohe internationale Ansehen und Bedeutung wie seit ihrer Gründung, damals in Hamburg im Jahre 1950. Ruth würde sich darüber zweifellos sehr freuen.
P.S.: Durch lange Zeiten, in denen ich krank und infolgedessen nicht fähig war, Gedrucktes über mehrere Seiten lang zu lesen, wurde ich noch begeisterterer Hörbuch-Leser als ich vorher schon war. Und so kommt mir bei meinen heute wieder möglich gewordenen längeren Lektüren immer wieder in den Sinn, wie schön sich dieses oder jenes Buch auch vorgelesen machen würde. "Vielleicht ist Glück nicht nur Zufall" gehört dazu - und dann eingelesen von der großartigen Corinna Harfouch...
Weblinks:
Nachwort von Inge Marßolek in der Ausgabe von 1983: Download
Liepman AG: www.liepmanagency.com/
"Die Paten der Literaten" | SPIEGEL SPECIAL 4/2002: Download
Reaktionen:
»So schön, so lieb!« - Marc Koralnik, Literaturagent
»... vielen dank für den schönen text über ruth liepman...« - Peter Stamm, Autor
»Ihr leises Ende hast Du schön beschrieben, der Maienburgweg mit dem wundervollen Blick auf die Stadt,... sie hat auch bei unserem ersten großen Fest zum 40-jährigen Bestehen der Arche eine sehr schöne, kleine Rede gehalten in dem Kleid, das sie bei Canettis Literaturnobelpreisfeier getragen hat, und Du hast, in diesen Zeiten wichtig, ihren Mut in der schweren Zeit der Emigration und des Untergetauchtseins so gut geschildert. Dazu gehörte auch, dass sie als letzte jüdische Studentin in Hamburg in Jura promoviert wurde.« - Elisabeth Raabe, Verlegerin
»...Interessant, beim Lesen Deines Beitrags das Leben von Ruth Liepman nochmal in all seinen Etappen an sich vorbeiziehen zu lassen. Interessant deswegen, weil sie so ganz anders war, als man Literaturagenten im angelsächsischen Raum wahrnimmt. Sie hat gewissermaßen eine Kultur der 'guten' Agentin geprägt, die beispielhaft für viele Agentinnen und Agenten geworden ist. Obwohl ich ihr nie begegnet bin, war sie immer ein großes Vorbild für mich, wohl weil meine erste Chefin, Dagmar Henne, sie sehr bewunderte.» - Silke Weniger, Literaturagentin
»Ein guter und wichtiger Artikel!« - Peter Lohmann, Verleger
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