Das Werk des russischen Künstlers El Lissitzky (1890-1941) hat mich in meinem Leben immer wieder an der einen oder anderen Ecke eingeholt. Ich fange mal bei dem Ereignis an, das am weitesten zurückliegt. Damit zu dem Tag, als der revolutionäre Avantgardist in einer bescheidenen Dreizimmer-Wohnung in der Bremer Neustadt einer sechsköpfigen bürgerlich-konservativen Familie mit starker brauner Vergangenheit auftauchte.
Mein Vater Wilhelm Rodewald (1912-1978) war nicht nur ein leidenschaftlicher Buchhändler, sondern – vielleicht sogar mit noch größerer Lust – ebenfalls ein erfahrener Antiquar. Es waren jene Zeiten, in denen man Bücher, die vergriffen, die nicht mehr lieferbar waren, eben in Antiquariaten suchen oder sichten musste und mit Glück auch fand. Es waren oft wahre Höhlen bibliophiler Funde und Schätze, die sich alle in ihren Gerüchen voneinander unterschieden, aber dennoch alle einen sehr spezifischen typischen klammen Duft ausströmten, eben nach alten Büchern rochen. Leider sterben sie alle Buch für Buch als Ladengeschäfte aus, heute verbreiten sich diese Raritäten oder oft leider zu schnell aus den Katalogen katapultierten Titel immer ausschließlicher über die bekannten Online-Kanäle.
Wenn mein Vater zu Haushalts- oder Bibliotheksauflösungen bestellt wurde, waren diese für ihn immer mit spannenden Momenten verbunden, ob sich zwischen den meist sich im Überfluss in den Regalen aufzufindenden Allerweltstiteln womöglich Kostbarkeiten verbargen. Erfahrene, geübte bis geborene Antiquare operieren mit einem zusätzlichen Sinn, so dass ihnen nur selten eine Rarität unerkannt durch die Finger gleitet. Zumindest lieber einmal zu vieles in dem anzukaufenden Konvolut mit ins Lager schleppen, als das Risiko einzugehen, dass einem etwas Kostbares durch die Lappen ginge.
Es versteht sich, dass sich ein Antiquar niemals anmerken lässt, wenn er einen solchen Schatz meint, gesichtet oder geargwöhnt zu haben. Im Gegenteil, er wird versichern, dass das alles nicht viel wert sei, man dürfe sich glücklich schätzen, dass man alles mitnähme, man dem Verkäufer geradezu einen großen Gefallen täte. Jeder Antiquar haut jeden Verkäufer auf irgendeine Weise übers Ohr. Ausgenommen den Fall, der Verkäufer weiß seinerseits recht genau, was er in Händen hat und gewillt ist zu veräußern. Dann wird der Ankauf für den Ankäufer ein wenig teurer, obwohl er auch immer gut mit dem Druck arbeiten kann, der fast immer hinter dem Motiv einer Veräußerung eines Hausstandes steht, entweder weil man die Bude leerbekommen muss oder in Geldnot steckt.
El Lissitzky I
So oder ähnlich muss es meinem Vater ergangen sein, als ihm Anfang der sechziger Jahre bei einem größeren Konvolut, das er in einem Bürgerhaus in Bremens Stadtteil Schwachhausen begutachtete, eine Mappe mit zehn Kunstdrucken von einem gewissen El Lissitzky in die Hände fiel. Ich weiß nicht, ob er den Namen des Künstlers wirklich kannte, denn obwohl seine Bildung umfangreich war, war diese doch eventuell durch seine Nazi-Vergangenheit bedingt getrübt, oder kannte er noch all die Namen derer, deren Werke man nur knappe drei Jahrzehnte vorher verbannt oder sogar verbrannt hatte und zu denen El Lissitzky als Revolutionär, Kommunist und Jude gehörte?
Was ihm aber seine antiquarische Spürnase in jedem Fall gedeutet haben musste, dass das ein attraktiver Fund sein müsse. Solche Entdeckungen wurden dann schnell zwischen die weiteren Teile der anzukaufenden Masse geschoben und versteckt. So kam die Mappe in seinem Antiquariat, das er im Keller unter seiner Buchhandlung betrieb, in eine der hintersten Ecken.
Es ergab sich aber, dass regelmäßig der legendäre Hamburger Antiquar und Auktionator Dr. Ernst Hauswedell (1901-1983) sein Haus im Rotherbaum in der Fontenay 4 verließ und durch den Norden und auch weiter fuhr, um „seine“ Antiquare landauf und -ab zu besuchen, um nach Preziosen zu fahnden, die er dann in deren Auftrag in seinem international angesehenen und exklusiv frequentierten Auktionshaus anbot und damit selbstredend bessere Preise erzielen konnte, weil er ein viel größeres Publikum bediente als seine Antiquariatskollegen in ihren Läden der Provinz oder einer kleineren Stadt. Wenn solch ein Auktionator erfolgreich vermittelt, kassiert dieser eine Kommission, den großen Teil bekommt aber natürlich der verkaufende Antiquar, versteht sich.
So schaute also der elf Jahre ältere, hochgeschätzte Kollege auch immer mal bei meinem Vater in seinem Laden in der Bremer Pelzerstraße 4 vorbei, um zu sehen, ob es etwas Neues gab. Ja, dieses Mal schon. Natürlich erfasste Hauswedell sofort, was er da zu Gesicht bekam, es war die 1923 bei Rob. Leunis & Chapman GmbH Hannover für Kestnergesellschaft Hannover gedruckte Kunstmappe mit dem bombastischen Titel Die plastische Gestaltung der elektro-mechanischen Schau Sieg über die Sonne, bestehend aus 10 farbigen Grafiken und einem Titelblatt, damals in einer Auflage von nur fünfundsiebzig nummerierten und von El Lissitzky signierten Exemplaren. Mit welcher Nummer „unsere“ Mappe ausgezeichnet war, weiß ich nicht.
Nun, diese Mappe verließ, wenn wir Kinder uns jetzt an die ganz genau richtige Summe erinnern, für dreitausend D-Mark Ertrag das Haus Hauswedell. Für ihn und für jene Zeit eine attraktive Summe, zumal seine Buchhandlung auch immer zu kämpfen hatte und der vielköpfigen Familie, trotz des sehr bescheidenen Lebens, das sie führte, die Mäuler gestopft werden musste. Obendrein befand er sich mit seinem Laden in Händen eines unberechenbaren, psychotischen Vermieters, der ihm immer nur sehr kurzfristige, dann aber immer höhere Mietverträge zugestand, die ihn immer wieder in große Furcht versetzten, wenn der Termin des Endes des Mietvertrages näher rückte. Sicher unter anderem einer der Gründe, die dazu beigetragen hatten, warum unser Vater nicht älter als 65 Jahre alt werden durfte…
Diese aus dem in den zwanziger Jahren entstandenen Kunstwerk Gewinn ging dann mehr oder weniger 1:1 in die komplette Renovierung der Wohnung, die meine Eltern 1939 in der Bremer neustädtischen Huckelriede bezogen hatten und der aber seitdem keine Auffrischung gegönnt worden war. Ich erinnere mich noch gut an die dicken Musterbücher, die der Malermeister vorbeibrachte, aus denen wir die Tapeten aussuchten. Es war noch zu Vor-Rauhfaser-Zeiten.
Zwischenbemerkung I: Aus den Auszügen der Geschichte des Hauses Hauswedell, das seinen Betrieb 2016 einstellte, die man aber noch im Internet finden kann (http://www.hauswedell-nolte.alfahosting.org), geht hervor, dass diese gleiche Mappe viele Jahre später, in 1989, noch ein weiteres Mal über den Auktionstisch ging, ob es dieselbe wie die damalige war, müsste man ermitteln. Der Ertrag war damals unerhörte 829.600,- D-Mark… Nun, das hatte ein Vater dann nicht mehr erleben müssen.
Zwischenbemerkung II: Laut der Angaben des Museum Folkwang Essen war 1926 eine der Mappen für das Museum Folkwang erworben. Im Zuge der nationalsozialistischen Aktion „Entartete Kunst“ wurde es dann jedoch im August 1937 aus der Sammlung gerissen und Ende 1938 verkauft. Insofern muss wohl durchaus zu befürchten sein, dass jene Mappe, die in den Händen meines Vaters gelandet war, der Raubkunst zugeordnet werden muss, oder in dem günstigeren Fall von jemandem, der das Werk in seinem vollen Umfang zu schätzen wusste, über die Zeiten gerettet werden konnte. (Siehe dazu: Informationen zum Projekt "NS-Raubgut" der Staatsbibliothek Bremen: https://www.suub.uni-bremen.de/infos/ns-raubgut/ )
El Lissitzky II
Später kreuzte Lissitzky meinen Weg erneut, in der Oberstufe meiner Schule: unsere engagierte Kunstlehrerin Waltraud Otto brachte uns im Kunstunterricht die Kunst der Russischen Revolution und sogar deren Auswirkungen auf die moderne deutsche Kunst zum Ende des Weltkrieges und in den Jahren der Weimarer Zeit – zum Bauhaus zum Beispiel. All das hat ganz sicherlich nicht in irgendeinem Lehrplan jeners Zeit gestanden, auch nicht in einer damals noch linientreuen Sozialdemokratie, die das Bremer Schulsystem bestimmte. Aber immerhin befanden wir uns damals in den End-Sechzigern!
Ja, das "Fräulein" (so nannten wir Lehrerinnen 1966 noch!) Otto kam uns wie eine leibhaftige Erleuchtung in unserem vielfach noch aus den braunen Jahren stammendem Kollegium vor, sie trat die Nachfolge von Gustav Mertens an, ein Unikum, das mehr Werk- und Zeichenlehrer als Kunsterzieher war ("Legt die Bleifeder beiseite" - dann setzte er zu nichtssagenden Monologen an). Sie hingegen erkoren wir zu unserer Juliette Greco des Alten Gymnasiums, mit schwarzer Pagenfrisur und immer ganz in schwarz gekleidet... Ich wählte mir die Russische Avantgardkunst dann - etwas wichtigtuerisch - sogar zum Wahlfach für mein Abitur, obwohl ich am Ende dann in anderen Fächern nachgeprüft wurde, nix mit Moderne, sondern in Latein und Mathematik...
El Lissitzky III
In den Jahren 1978 bis 1985 war ich Mitglied des Kollektivs, das 1977 den Bremer Buchladen im Ostertor gegründet hatte. Es waren Jahre, die mich in vielerlei Beziehung stark geprägt haben. Der Buchladen war die erste Bremer Buchhandlung für alternative Literatur, was im damaligen Verständnis Gedrucktes und Informationen für die in diesen Jahren entstehenden Bürgerinitiativen und sozialen Bewegungen anzubieten bedeutete, wie die Anti-AKW-Bewegung, den Feminismus, anti-autoritäre Kindererziehung, die Schwulenbewegung, Dritte-Welt-Interessen usw.
Es gab damals bereits den wunderbaren Buchladen Bettina Wassmann in der Stadt, aber dieser deckte die Informationsbefriedigung für die aufgezählte Klientel nicht ab.
Unser Laden befand sich die ersten Jahre in der Nummer 7 des Sielwall, in einem zweigeteilten höchstens 50 m² großen Ladenlokal, in dessen Mitte der Hauseingang und das Treppenhaus zu den über dem Laden liegenden Bewohnern führte.
Offensichtlich war die Eröffnung des Ladens nicht die schlechteste Idee, denn das Geschäft lief gut und immer besser, das war auch der Grund, dass man mich ein Jahr nach seiner Gründung fragte, ob ich nicht bei der Sache mitmachen wolle, ein Angebot, das ich damals annahm, ohne eine Sekunde zu zögern. Denn allemal war mir klar, dass ich mich damit verbessern würde. Allerdings nicht ökonomisch (ich arbeitete damals als LKW-Fahrer), aber in so einem Kollektiv mitzumachen, das schien mir spannend. Außerdem hatte ich nichts zu verlieren.
Und der Laden florierte, so dass bald ein Umzug in ein größeres Lokal nötig wurde. Es ging dann hinüber in das Fehrfeld und bald darauf schien es uns auch an der Zeit dem Laden ein moderneres Logo zu verpassen, bis dahin zierte unseren Schriftzug geradezu pflichtgemäß ein Regenbogen damaliger Fassung. Und da trat wieder einmal der liebgewordene Freund Lissitzky aus früheren Zeiten dazu und "lieh" er mir eines der Bilder aus seiner suprematistischen Erzählung Von zwei Quadraten. Ich veränderte es leicht und setzte es in ein transparentes geöffnetes Buch. Versehen mit unseren Firmennamen, dabei die übrig gebliebenen Fonts eines Letrasetbogens nutzend; Textverarbeitung via eines Computers gab es damals für uns noch nicht…
Die Frage bleibt: hätte El Lissitzky mir diesen Ideenraub und diese Erweiterung seiner Motive übel genommen? Nun, soweit ich ihn über die Jahre kennenlernen durfte, glaube ich eher nicht. Но ты скажи мне, Элиэзер!
Reaktionen:
»Sensationell - danke für diesen Einblick!!!!« - Ernst Matzke, Maler und Grafiker, Bremen
»Einen außerordentlichen Dank für diesen wunderbaren Artikel über El Lissitzky. Der Bericht über das Antiquariat deines Vaters und seine großartige Beschreibung hat mich sehr gerührt, erinnert es mich doch an all die zauberhaften Stunden in Hamburger Antiquariaten während meiner Lehrzeit zum Buchhändler. Die alten Bücher hatten es mir damals ganz besonders angetan und ich habe auch manches Buch, welches sich später als wertvoll erwies, in einem kleinen Stapel mit anderen "versteckt " gekauft. Hauptsächlich natürlich nicht bei den gewieften Antiquaren, sondern meistens in Antiquitätenläden z.B in der ABC Straße in der Nähe zum Gänsemarkt. (die gibt es übrigen längst nicht mehr. Es ist alles aufgehübscht in den alten Häusern) Die Trödler mögen mir verzeihen, dass ich damals als Lehrling schlauer war als sie, die Bücher nur als "Beifang" verkauften, wie wir als Norddeutsche ruhig dazu sagen können.Ein sehr schönes Buch über El Lissitzky aus der Büchergilde Gutenberg besitze ich noch. Dieser zukunftsweisende Künstler hat mich stets fasziniert und ich habe ein Großteil seines Werkes in Hannover bestaunen können. Ich erinnere mich noch sehr gut an deinen ersten Entwurf des neuen Buchladen Logos und war begeistert davon, und war sehr angetan von deinem Talent so etwas zu gestalten. Du weißt sicherlich auch noch, dass du auch ein Einwickelpapier oder besser gesagt Einschlagpapier entwickelt hast und wir eine oder mehrere Rollen davon haben drucken lassen. Ich weiß noch ganz genau, Zufall oder nicht, dass sich da ein, uns sehr lustig erscheinender, Kalauer auf dem Papier befand. Die Originalgrafik von E.L.heißt doch Удар auf deutsch „Einschlag“ Passt doch. Dein alter Buchladenkollege.« - Knud Falck, Buchhändler Bremen
»Wunderbare Nachtlektüre!« - Holger Mertins, KONTRAST · Männermode, Bremen
»Jetzt seh ich das Logo vom Buchladen Ostertor mit ganz anderen Augen - und das nach über 25 Jahren... !« - Christine Glenewinkel, Autorin, Bremen
»Schöner Text. An das alte Bildzeichen des Buchladens kann ich mich noch gut erinnern. Gab ja seinerzeit auch entsprechende Lesezeichen, die ich oft in Büchern wiederfinde. Die Partei DIE LINKE hat ja den Lissitzky-Keil im Logo. Allerdings wissen nur wenige Parteigänger, dass der ursprünglich von E.L. kommt.« - Manfred Steglich, Sozialwissenschaftler, Bremen
»Ausgezeichnet! Und eine sehr schöne Geschichte, schön erzählt. Danke!« - Manfred Schürz, Dozent Uni Bremen
»Endlich bin ich dazu gekommen, Deine wunderbare Geschichte zu lesen - eine tolle Zeitreise und so lebendig erzählt. Danke!« - Silvia St-D., Architektin Bremen
Wenn Du willst, kannst Du mir gerne Deinen Kommentar schicken, und zwar an diese Mail-Adresse: blog.guenny@mercadodelibros.info- Wir freuen uns über jede Reaktion.
Comments