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  • AutorenbildGuenter G. Rodewald

Überzeugungstäter/-autor

Aktualisiert: 9. Okt. 2021


Linus‘ Lieblings-Turtle Raphael (lt. ZEIT-Magazin 02/2021)

„Ich habe tatsächlich das Buch geschrieben, das ich mir selbst als Jugendlicher gewünscht hätte." Das sagt Linus Giese über sein "Ich bin Linus", das bereits im vergangenen September im Rowohlt Verlag Polaris erschienen war, aber auf das ich aber erst vor kurzem stieß, als mir die Ankündigungen des Literaturhauses Bremen und der Stadtbibliothek Bremen auf die Auftritte des Autors im November in Bremen über den Weg liefen.


Da ich aufgrund meiner gesundheitlichen Dilemmas mittlerweile ein ausgesprochen leidenschaftlicher Audiobook-Leser geworden bin, aber auch weil ich sah, dass Giese sein Buch selbst als Hörbuch eingelesen hat, schien mir das die Version, die ich dem gedruckten Exemplar erst einmal vorziehen wollte, angesichts des unerhört autobiografischen Inhalts des Buches.


Das ist auf keinen Fall die falsche Entscheidung gewesen. Denn Gieses/Linus' Geschichte, die er von sich und seiner eigenen Person erzählt, geht dem Leser/Hörer so noch näher als wenn er ihn "nur" als gedruckten Text läse. Obendrein liest Griese seinen eigenen Text mit spürbarer Betroffenheit, flüssig, nie dramatisierend und durchaus professionell. Und mit sehr angenehmer Stimme.


Ein Satz soll genügen, um die Lebensgeschichte zu schildern, von der und über die Linus Giese uns berichtet: er muss sehr früh lernen mit der ihn immer mehr beengenden Unsicherheit aufzuwachsen, nämlich dass in ihm ein Junge stecken muss, obwohl er als Mädchen geboren gewesen zu sein schien und auch so erzogen wurde. Wer will sich anmaßen zu meinen, das nachempfinden zu können? Ich glaube, keinem oder keiner wird das gelingen, so er, sie nicht selbst in einem solch bedrängendem Konflikt lebt oder gelebt hätte.


Aber diese Konflikte, dieses Erdulden, diese Schmerzen zu schildern, das gelingt Linus, man leidet mit ihm durch sein "Protokoll", das er minuziös schildert, aber man freut sich mit ihm und jedem Schritt, den er einer Lösung, seiner wirklichen Identität näher kommt. Bis er eines Tages in einem Coffee Shop seinen Turning Point erleben darf, als er laut und deutlich an der Bestelltheke seinen "neuen" Namen ausspricht: "Ich bin Linus!" Das muss ihm selbst wie ein lauter Aufschrei geklungen haben, wenn es dem ihm bedienenden Gegenüber an der Espressomaschine gar nicht so geklungen haben mag. Damit war aber sogar auch schon der passende Titel für sein Buch gefunden war, das wir jetzt lesen dürfen.


An einer Stelle in seinem Text bemerkt Linus, dass der Begriff, den er selbst zwar immer wieder anführt, wenn er seiner Veränderung den Namen Coming-Out oder Outing gibt, dieses Wort seine Situation, seiner Wirklichkeit eigentlich nicht genau genug trifft. Denn es dreht sich für ihn nicht „einfach“ darum, sich zu erklären, dass er nunmehr kein Mädchen mehr ist, sondern ein Junge, ein Mann, und damit wäre die Sache erledigt, nein, sein Weg zu seiner neuen Identität führte bislang über radikale physische Veränderungen und damit einhergende Mutationen des Bewusstseins. Und - damit sich unterscheidend vom "klassischen" Coming-Out eines Schwulen und sicher auch einer Lesbe - stößt er auf noch viel tiefer sitzende Vorurteile oder - nennen wir es großzügiger – fehlende Voraussetzungen der Akzeptanz.


Ich weiß insofern, wovon ich rede: mein Coming-Out als Schwuler war eigentlich nur ein Schritt (wenn auch mit Vorlauf): irgendwann den Mut zu fassen, aus dem Schrank zu steigen und zu sagen: Schaut her! Ich bin schwul! Hat zwar auch lange Jahre gedauert, bis ich soweit war und auch noch das eine oder andere Jahr, bis es auch für mich zu einer tatsächlichen Selbstverständlichkeit und in freien, tiefen Zügen endlich lebbar und erlebbar wurde. Und ich endlich Liebe ohne Vorbehalte, Ängste oder Vorsicht zu erleben kennenlernte und damit in der Freiheit angekommen war. Ich hatte es dann eigentlich hinter mir. Womögliche Anfeindungen oder Ablehnungen konnten und können seitdem weitgehend an mir abprallen.


Aber für Linus bleiben ganz sicher noch viele weitere Schritte, Entscheidungen, Erklärungen, Verinnerlichungen, auch wenn er für sich mittlerweile ein entspanntes persönliches und sogar berufliches Umfeld gesucht und geschaffen hat, in dem er sich diskrimierungsfrei bewegen kann. Er betreibt seinen sehr erfolgreichen Blog Buzzaldrins Bücher und arbeitet in dem queeren Berliner Kollektiv-Buchladen Siegesäule mit.


Aber umso mehr kann ich ihm nur allergrößten Respekt für seinen Wagemut* zollen, ihn beglückwünschen und nur bewundern zu seinen diversen gelungenen Sprüngen in eine hohe Zahl kalter Gewässer und über eine Unzahl hoher Klippen. Und man kann ihm am Ende der Lektüre, des ihm Zuhörens nur alle nötige Kraft wünschen für die steps, die noch vor ihm liegen oder die Berge, die sich womöglich noch an der einen oder anderen unerwarteten Ecke vor ihm auftürmen.


Und eine Sache ist ihm natürlich schon gelungen, er hat für viele, die ähnliche Kämpfe zu bestehen haben, tatsächlich das Buch geschrieben, das er sich als Jugendlicher gewünscht hätte. Siehe oben.


Chapeau!


* Auch wenn Linus in seinem Blog darum bittet, ihn nicht mehr für seinen Mut zu loben, nehme ich mir die Freiheit, es dennoch zu tun.

 

Nota bene: Im Rahmen der Bremer Programmreihe Queer-(L)it! wird Linus Giese zu Gast in Bremen sein:

  • Lesung aus „Ich bin Linus“ am Donnerstag 4. November 2021 19:00 in der Stadtbibliothek Bremen Am Wall und am

  • Ein Vortrag am Freitag 5. November 2021 um 16:00 in der Stadtteilbibliothek Vegesack zum Thema „Queere Vielfalt in Kinder- und Jugendbüchern“.

  • Siehe auch: https://www.literaturhaus-bremen.de/projekte/queer-lit

 
 
 

Weblinks:

 

Wenn Du willst, kannst Du mir gerne Deinen Kommentar schicken, und zwar an diese Mail-Adresse: blog.guenny@mercadodelibros.info - Wir freuen uns über jede Reaktion.




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