Felice Picano gestorben
- Guenter G. Rodewald

- vor 1 Tag
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8. Dezember 2025 · Während ich dabei war, mich gestern auf einen Besuch der Hochschule für Künste Bremen HfK Bremen vorzubereiten, der in direktem Zusammenhang mit einem Roman des amerikanischen Autors Felice Picano steht, stieß ich bei meinen Recherchen nach aktuellen Informationen zu Picano auf eine sehr traurige Nachricht, von der ich bislang keinerlei Kenntnis hatte: bereits im Frühjahr dieses Jahres war er in Los Angeles gestorben. In der Ausgabe vom 13. März 2025 der The New York Times las ich einen langen Nachruf auf ihn, den ich in den Weblinks unten am Ende dieses Artikels zum Download eingestellt habe. Was mich mit dem Autor und seinem Roman verbindet, schildere ich im zweiten Teil dieses Artikels. Vorerst dieses:
Der Zweck meines Besuches bei der HfK Bremen
Vor einiger Zeit wurde ich von Prof. Dr. Annette Gilbert der Friedrich--Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg · FAU angeschrieben, da sie auf meine Person gestoßen war, weil sie einen Beitrag in meinem Blog gefunden hatte, der den Titel »Pirat a.D.« (>>> Link) trug und in dem ich mein »Geständnis« meiner illegalen Machenschaften in den 60er und 70er Jahren als Raubdrucker abgelegt habe. Zugegebenermaßen ohne jedes Risiko, da die Delikte unter juristischem Aspekt längst verjährt waren, allerdings von gewisser Pikanterie, denn ein Jahrzehnt später wurde ich in Barcelona Literaturagent, ein Beruf, dessen heiligste Pflicht zu erfüllen bedeutet, das Urheberrecht zu schützen, ggfs. Brüche desselben zu verfolgen...
Prof. Gilbert wiederum hatte Interesse aber genau an meiner kriminellen Vergangenheit gefunden, da sie an der FAU das dort angesiedelte Integrierende Projekts »Schwarzer Markt für rote Bücher« leitete. Dieses beschäftigt sich sich mit dem Phänomen der Raubdrucke gegen Ende der 60er und der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts beschäftigt, d.h. mit den ‘alternativen’ Formen der Literatur- und Buchproduktion: dem Raub- bzw. Nachdruck, der ohne Wissen oder Erlaubnis der Autor:innen bzw. Verlage erfolgte. Das spannende Studienprojekt spielt sich in Zusammenarbeit mit Kolleg:innen verschiedener Universitäten in Berlin, Marburg, Augsburg und Bremen und der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig und deren zweitägiger Tagung Ende des gerade zu Ende gegangenen Monats ab (>>> Link).
Das spezielle Projekt an der HfK Bremen beleuchtet die Veranstaltung, geleitet von Prof. Dr. Tania Prill, unter anderem unter der Perspektive von Design- und Typografie. Und dazu hat man mich nun eingeladen, wie, warum, weshalb wir damals zu jenen Delinquenten wurden...
Darüber werde ich aus verschiedenen Gründen erzählen können, fällt diese Zeit doch mitten in die spannendsten Strudel meines persönlichen schwulen Coming-Outs. Und beide Raubdrucke, die ich mit meinen Freunden Roland und Rainer, die beide viel zu früh, so unsinnig verstarben in deren Druckereien herstellte, hatten sehr viel genau mit meiner schwulen Sozialisation zu tun, waren das Motiv zur Tat.
Alles unter den damaligen dogmatischen Prämissen: als erstes die politischen Rechtfertigungen, die man sich zumindest damals zu bequem zurechtlegte. Aber ich werde ebenso den Aspekt der technischen Fabrikation der Drucke schildern können, wie arbeitsaufwendig sich dieser Prozess in jenen Zeiten noch gestaltete. Denn wir befinden uns in der Pre-PC-Copy-and-Paste-Social-Media-Ära, nämlich in der wir mit Cuttern, Scheren, Letraset-Bögen, UHU-Alleskleber, Kameras, Dunkelkammern, Offetdruckfolien, Spachteln, stinkender Druckfarbe, permanentem Wechsel der Druckvorlagen produzierten, mit den uns umgebenden laut laufenden, aber geliebten Geräuschen der imposanten Heidelberger Offetdruckmaschinen.

Aus der damaligen Perspektive betrachteten wir unser Handeln als gerechtfertigt, machten uns die Sache einfach, griffen leichtfertig den bekannten Ruf eines Kurt Tucholsky auf, der 1932 in einem Brief an seinen Verleger Ernst Rowohlt ermahnt und aufgefordert hatte: »Macht unsere Bücher billiger! Macht unsere Bücher billiger! Macht unsere Bücher billiger!«
Zu teuer... befanden wir
Natürlich machten wir uns die Sache viel zu einfach, aber meinten, unser Handeln damit verteidigen zu können, dass sich Verlage (konservative wie eine Schweizer Verlagsanstalt im Falle von Felice Picano und seinem »The Lure« oder linke wie der Trikont-Verlag im Falle von Peter Schult dessen »Besuche in Sackgassen · Aufzeichnungen eines homosexuellen Anarchisten«) unter ihre Mäntel gerissen hätten. Wo wir doch meinten, dass beide Bücher viel zu wichtig seien, als dass sie aufgrund ihrer hohen Preise nicht an die »homosexuelle Basis« gelangten, der wir uns in unserer damals kurz vorher gegründeten Schwulengruppe verpflichtet fühlten.
Zu spät...gestehen wir später
Wir haben uns dabei - das lasse ich vollkommen als Vorwurf gelten - in keiner Weise darum gekümmert, wie sich ein Ladenpreis eigentlich zusammensetzt. Der Picano kostete damals, meine ich, 24,80 D-Mark, der Schult 20,00 D-Mark. Zu einer gewissen Rehabilitierung könnte man uns zugestehen, dass wir diese zwei Bücher für so wichtig hielten, dass sie zu einem »populären« Preis an die Leser gelangten, die sie »benötigten«. Gewisse Begnadigung könnte man uns zukommen lassen aufgrund des Umstandes, dass wir nach den beiden Drucken nicht noch weitere Bücher in das aufsehenerregende Zeitungsformat in der Größe DIN A3 verwandelt hätten. Unsere Ausgaben kosteten jeweils nur 4,80 D-Mark, damals kostete ein halber Liter Bier um die € 2,20.
So sahen die Cover der zwei Titel und die beiden Autoren aus:

Und die gedruckten Seiten innen:

Was beinhalten Schults »Besuche in Sackgassen«?
Peter Schult (*17. Juni 1928 in Berlin; † 25. April 1984 in München) war ein anarchistisch engagierter, deutscher Schriftsteller und Journalist sowie ab den 1970er Jahren ein exponierter Teilnehmer und häufig umstrittener Protagonist öffentlicher Debatten um Sexualmoral und Sexualpolitik, besonders zu Homosexualität und Pädophilie.

In Besuche in Sackgassen erzählt Schult aus seinem sehr wechselvollen, radikalen Leben: Er war u.a. Hitlerjunge, Angehöriger des letzten Aufgebots im Dritten Reich, später Mitglied der Widerstandsgruppe Edelweißpiraten, Schwarzhändler in der Nachkriegszeit, Politfunktionär in der jungen Bundesrepublik, Freiwilliger der Fremdenlegion und schließlich politischer Journalist und Schriftsteller.
Das Buch enthält offen beschriebene sexuelle Beziehungen Schults zu minderjährigen oder deutlich jüngeren Jugendlichen bzw. Halbwüchsigen, was heute — und auch damals schon — gesellschaftlich und juristisch stark umstritten war. Dennoch kam es niemals auf den Index und auch dem Konkret Verlag war es hoch anzurechnen, dass er das Buch ohne jedwede Zensur veröffentlicht hatte, dem Schult aber auch niemals zugestimmt hätte.
Gleichzeitig stellten Teile der Kritik klar, das Buch als authentisches Zeugnis einer gewissen Zeit zu sehen und zu verteidigen: Der Lebensweg von Schult mit all seinen Brüchen, Dazwischen und radikalen Wendungen wurde so von diversen Stimmen als beeindruckende (wenn auch umstrittene) Lebensgeschichte beschrieben.
Peter Schult, mit dem ich eine längere Korrespondenz haben durfte, davon die meisten Briefe ins und aus dem Gefängnis schrieb mir damals (alles in Kleinausgaben Kleinbuchstaben, wie seine gesamte Korrespondenz an mich:
»welcher autor wäre nicht stolz darauf. enn sein buch als raubdruck herauskäme.ein grösseres lob gäbe es doch nicht.«
Und was pasiert bei Picanos »The Lure«?

Der Protagonist ist Noël Cummings, ein Literaturdozent, der sich anfänglich als heterosexuell sieht und mit dem Verlust seiner Frau kämpft. Er wird Zeuge eines brutalen Mordes an einem schwulen Mann. Noel wird von einer polizeinahen Organisation rekrutiert — als Lockvogel („the lure“) in der schwulen Szene von New York, um hinter einen Serienmörder zu kommen, der gezielt schwule Männer tötet. Er dringt nach und nach tief in die Szene ein — Bar‑ und Clubbesuche, Partys, dunkle Ecken, homosexuelle Subkultur der 1970er in Manhattan.
Parallel gibt es Elemente eines Thrillers: Mord, Undercover‑Ermittlungen, Spannung, Verdächtigungen, und — laut einigen Rezensionen — eine Verschwörung mit höheren Einsätzen.
Insgesamt verbindet das Buch also Krimi/Thriller‑Elemente mit dem Coming‑out des Protagonisten Noëlund einer Darstellung der schwulen Subkultur New Yorks in den 70ern — eine Mischung aus Sozialreportage, Thriller und Coming‑of‑Age (bzw. Coming‑out) Geschichte, geschrieben von jemandem, das schwule Milieu des Romans bestens kennt und sich dazu offen bekennt.
Und der Autor ist wer?
Felice Picano hat außer Romanen und Erzählungen auch eine vierbändige Autobiografie. Ebenso das Standardwerk »The Joy of Gay Sex« (»Die Freuden der Schwulen«, Gmünder, Berlin 1992), ein umfassendes Handbuch über schwule Sexualität und Lebenskultur, das Identität stiftete und Fragen zu Sex und Beziehung beantwortet. Es beschreibt die positiven Aspekte und Erfahrungen des schwulen Lebens, von Liebe über Gemeinschaft bis hin zu sexueller Entfaltung und Selbstakzeptanz, die durch Aufklärung und Sichtbarkeit wachsen.
Picano war auch Verleger, er gründete Gay Presses of New York (GPNY), ein bedeutendes Kollektiv kleiner LGBTQ+-Verlage, darunter Sea Horse Press, Calamus Books und JH Press, das von Ende der 1970er bis Anfang der 1990er Jahre in New York City aktiv war.

Felice war für die New Yorker Schwulenszene eine zentrale und überaus wichtige Person. Er war bei den 69er Stonewall Riots dabei. Ich bin sehr glücklich, wie er damals, als ich seine »The Lure« 'verbrochen' hatte und nachdem ich ihm nach New York ein 'Belegexemplar' geschickt und mich ihm als 'Raubdrucker' frank & frei 'gestellt' hatte, er mir schrieb (alles per Luftpost damals, wir lebten noch in den Vor-Internet-Social-Media-Urzeiten):
»Dear Guenny, what a brilliant and wonderfully subversive idea! The newspaper format adds an additional underground flair. I’m truly honored to be part of this spectacular edition of The Lure.«.
In der Anlage dieses Posts füge ich zwei Nachrufe an, einen in TNYT und die zweite von Trude Ring im ADVOCATE. Beide zusammen mit meinen durch KI-korrigierten Übersetzungen ins Deutsche.
Felice, have a good time on the other shore.
Weblinks:
Reaktionen:
»Wie immer wunderbar geschrieben und sehr spannend. Denke, Du hast alle beeindruckt mit Deinem Wissen und Deinem Charme« - V.St., Buchhändler, Bremen










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