Kriegsdienst? Hingehen oder nicht?
- Guenter G. Rodewald

- 5. Dez.
- 9 Min. Lesezeit

5. Dezember 2025 - Anfang des Monats November sah ich im Bremer Regionalfernsehen Radio Bremen in dessen täglich ausgestrahltem Programm »buten un binnen« eine Reportage aus dem Gymnasium Lilienthal, Gemeinde vor den östlichen Toren Bremens, die darüber berichtete, wie Schüler und Schülerinnen der 11. und 12. Klassen dieser Schule in ihrer Aula über das Thema der in der Gesellschaft und Politik, und gerade unter den betroffenen Jugendlichen aktuell heftig diskutierten »Wehrdienstpflicht« debattierten. Während ich den Beitrag sah und danach, ging mir meine eigene Geschichte um dieses Phänomen durch den Kopf, und ich fühlte mich in das Alter zurückversetzt, in dem ich mit diesem Thema der »Wehrpflicht« sehr bedrohlich konfrontiert war. Das spielte sich in meinem Fall – geboren 1949 – im Jahr 1967 um mich ab, eben als ich meinen achtzehnten Geburtstag beging.

Hier der Link zu der Reportage von Radio Bremen im Gymnasium Lilienthal: Link
»Wehrtauglich« oder nicht?
Es war die Zeit, als noch jeder junge Mann, wenn er nach Vollendung seines siebzehnten Lebensjahres und damit sein achtzehntes erreicht hatte, grundsätzlich von der Bundeswehr für den sogenannten »Dienst an der Waffe«, laut Gesetz berufen, »erfasst« wurde. Volljährig wurden wir damals erst mit 21 Jahren, Soldaten durften wir aber schon mit 18 werden, um Menschen zu erschießen oder uns selbst erschießen zu lassen erschienen wir schon »reif« genug, erst drei volle Jahre später traute man uns zu, auch wählen zu dürfen. Es sei festzuhalten, dass ich über Zeiten berichte, die immerhin schon knappe sechzig Jahre zurückliegen, mir sind sie aber noch annähernd so nahe, als hätte sich das alles erst gestern abgespielt.
Es war also am 19. November 1967 Realität geworden, dass in Kürze ein Schreiben des Kreiswehrersatzamtes Bremen im Briefkasten landen würde, mit dem ich zunächst als »Wehrpflichtiger« offiziell erfasst wurde, und irgendwann bald danach der »Musterungsbefehl« bei mir landen, ich also zu der Überprüfung und des Grades meiner »Tauglichkeit« einbestellt worden würde. Das geschah dann alles sehr bald, weit hatte ich es nicht, der Ort, an dem der ganze Akt stattfinden sollte, lag nur zehn Fußminuten von unserer Wohnung entfernt, die Scharnhorst-Kaserne in Bremen-Huckelriede. Wie flüssig mir all diese militärischen Begrifflichkeiten auch heute noch geläufig sind, zeigt, wie tief diese Zeiten noch in meiner Erinnerung zu verorten sind.
Angst? Wovor?
Ich hatte schon lange vor der Einbestellung zur Musterung eine Heidenangst, gleichzeitig auch eine Hoffnung, drumherum zu kommen. Denn ich wünschte mir - wie wohl die allermeisten unter denen, die den Militärdienst auf sich zukommen sahen - nichts sehnlicher, als dass ich für »nicht wehrdienstfähig«, in Umgangsdeutsch »untauglich«, zumindest für »vorübergehend nicht wehrdienstfähig« befunden würde. Ergebnis, das bedeutet hätte, ich wäre davor bewahrt worden, in eine Kaserne zum Wehrdienst einziehen zu müssen.
Kurz das Ergebnis: trotz meiner mir durch mein Abiturzeugnis unmissverständlich attestierten Unsportlichkeit (Note: mangelhaft - siehe hier) und meiner Kurzsichtigkeit wurde ich für »voll verwendungsfähig (T1)« befunden. Nun gab es für mich kein Zurück mehr, es drohte, dass ich den Handel eingehen würde müssen, also mich an der Waffe ausbilden zu lassen, um damit in einem Ernstfall Menschen zu töten, ihnen das Leben zu nehmen.

Aber viel Schlimmeres machte mir Angst, eine sehr tief sitzende. Eine Angst, die ich meinte, in jedem Fall geheim halten zu müssen. Der normale Prozess war, dass man - wenn man beabsichtigte, den Kriegsdienst zu verweigern - vor einem Ausschuss, der eher einem Tribunal ähnelte, beweisen musste, den Dienst an der Waffe nicht vor seinem Gewissen verantworten zu können, ihn also zwingend ablehnen müsse.
Aber: meine Angst war eine ganz andere
Doch spätestens seitdem ich 14 oder 15 Jahre alt geworden war, war mir immer mehr bewusst geworden, dass sich meine erwachende Sexualität immer wieder und immer mehr in die Sehnsucht nach Jungen oder jungen Männern richtete, sei es nach Mitschülern in meiner eigenen Klasse und anderen Klassen meiner Schule. Oder auch am Bremer Theater, an dem ich von 1964 bis 1969 erst als Chorknabe, bald als als Statist, hin und wieder auch als Kleindarsteller fast jeden Abend auf der Bühne stand und mich dort sehr viel im Haus zu Proben aufhielt oder einfach, weil ich mich in diesem offenen Ambiente wohl fühlte.
Bei all der Anziehungskraft, die es bedeutet, die Theaterwelt von hinter dem Vorhang kennenzulernen, waren es für mich doch auch bedrückende Jahre. Es darf nicht vergessen werden, dass in den Jahren, die ich gerade schildere, der berühmt-berüchtigte Paragraph StGB 175 noch in seiner kompletten Gänze Bestandteil der bundesrepublikanischen Rechtsordnung bildete. Und zwar in der Fassung, die von den Nationalsozialisten 1935 dem ursprünglich im Kaiserreich im Reichstag 1871 verabschiedeten Paragraphen noch schärfer verfasst worden war und der nach Gründung der Bundesrepublik im Jahre 1949 weiterhin ungekürzter Bestandteil des Strafgesetzbuches blieb.

In unmissverständlich klaren Worten war dieses der unerbittliche Text:
»Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht missbrauchen lässt, wird mit Gefängnis bestraft.«
Je nach Strenge der Urteile hieß das, dass mehr als 50.000 Männer und männliche Jugendliche noch in den Jahren nach dem Ende des 2. Weltkrieges zu langen Zuchthaus- und Gefängnisstrafen, Jugendliche zu Jugendstrafen verurteilt wurden, ausschließlich aus dem Grund, dass Männer andere Männer liebten. Bis der Paragraph 175 Ende der 1960-er Jahre zunächst in einem ersten Schritt liberalisiert wurde, aber erst 2004 in seiner Gänze aus dem StGB gestrichen worden war.

Erst 2016 wurde durch den Historiker Rainer Hoffschildt eine seriöse Statistik über die konkreten Zahlen und die Dauer der Haftstrafen für Homosexuelle in den bundesdeutschen Haftanstalten erstellt. In den Jahren während des Nationalsozialismus waren es Zehntausende von schwulen Männern und lesbischen Frauen, die in den KZs durch die SS oder durch die Gestapo in den Gefängnissen gefoltert und ermordet wurden.
Diese Menschen wurden als »schwul« beschimpft, als »175-er«, als »warme Brüder« als »vom anderen Ufer«, »vom anderen Bahnsteig«, oder noch gröber »Ar...f..cker« bezeichnet und beschimpft, meist feige hinter der vorgehaltenen Hand, aber auch offen diskriminierend. Darum war es umso wichtiger, dass sich Homosexuelle, erst in den USA, dort explodierend mit den Stonewall Riots in New York, zu Beginn der siebziger Jahre, und einige Jahre später dann aber auch in Europa zu wehren begannen und sich in der Öffentlichkeit zu ihrer Sexualität bekannten. So eben auch in Deutschland.
In den Endsechzigern in Deutschland war noch in keiner Weise eine Änderung, gar Liberalisierung abzusehen. Das bedeutete und erwies sich für einen solchen jungen Mann, wie ich es im Begriff zu werden, eine extrem große Verwirrung bis hin zur Verzweiflung. Denn jeder Wunsch, der sich darauf richtete, mit einem anderen Jungen in zärtlichen, womöglich körperlichen sexuellen Kontakt zu kommen, verbot sich, weil ein scharfes Gesetz über solcher Lust drohend schwebte. Und so nahm die Furcht, enttarnt zu werden, immer größere Ausmaße an. Ich verlor meine Identität, traute mir immer weniger zu. Mein Traum, Bühnenbildner zu werden, bei Wilfried Minks' Klasse in der Freien Akademie der Künste Hamburg studieren zu dürfen ging dabei vollkommen unter. Ich hangelte mich statt dessen durch anspruchslose Jobs, Wäsche-. Gelenkbus-. und LKW-Fahrer wurden meine Jobs, meine Sexualität kam gänzlich zum Stillstand.
Verstecken
So begann ich, mich innerlich zurückzuziehen, verlor immer mehr meine Selbstsicherheit, den Glauben an mich selbst. Obwohl ich nach außen der muntere, vergnügte, witzige, lebenslustige Mensch blieb. Kein Mensch fragte nach meinem Befinden, nicht danach, warum man denn keine Freundin habe. Man nahm solche Fragen nicht in den Mund, weder die Lehrer, weder die Eltern, erst recht nicht die Familie, auch die Freunde nicht, obwohl man andererseits viel dummes Zeug zusammen anstellte, vom Kiffen bis zu anderen Drogen, LSD und anderen Scherzen.
Eine immer mehr befürchtete Frage, auf die ich keine Antwort zu geben in der Lage gewesen wäre. In diese nach außen vorgespielte Heiter- und Fröhlichkeit begannen sich auch Gedanken in meinen eigenen Vordergrund an Suizid zu schieben. Ich fand keinen, dem ich mich hätte öffnen können. Das lag nicht an der schlechten Auswahl meiner Freundschaften, der Lieblosigkeit oder dem Desinteresse meiner eigenen familiären Umgebung. Das tief steckende Tabu hing in allen Knochen und Kleidern der Menschen.

Auch im Theater gab es immer mal wieder Versuche von Schauspielern, Tänzern oder anderen Beschäftigten bis hin in die oberste Etage der Intendanz, mich zu locken. Denn natürlich gab es in dieser Szene eine auffällige Zahl von Homosexuellen, in diesem Milieu wurden sie gebilligt, von vielen vermutet, oder wusste es sogar. Aber auch hier: die Ängste waren groß und saßen tief, denn vergessen wir nicht: immer noch schwebte über allen Wagnissen, wenn man doch in einem gemeinsamen Bett landete oder sich in einem Park traf oder es auf einer Klappe trieb, der mit Gefängnis drohende Paragraph 175. Somit traute auch ich mich zu keiner intimeren Annäherung.
Resümierend beschränkten sich meine wirklichen sexuellen Kontakte in der Zeit meiner Pubertät und meines Erwachsenwerdens auf harmlose Spielereien mit ebenfalls den Sprung in die Pubertät machende Jungen aus der Nachbarschaft, die dann aber bald abwinkten bei meinen Versuchen, ihnen auch weiterhin nahezukommen.
Da gab es noch eine kurze Anekdote bei einem Aufenthalt in England in einem Jugend-Camp, die recht aufregend verlief, aber auch keine Zukunft haben konnte. Auch gab es Kontakte mit einem älteren Mann in meiner Verwandtschaft, aber alles was man da nachts miteinander trieb, über das wurde am nächsten Morgen nicht mehr geredet denn er musste es umso mehr geheim halten, zumal ich auch noch als minderjährig galt. So waren auch diese Ausbrüche, obwohl sie geschahen, dennoch nicht wirklich existent, duften es nicht sein.

Gewissenstribunale
Ich war mir sicher, wenn es dazu kommen sollte, dass ich von der Bundeswehr geholt werden würde, ich spätestens dort als Schwuler geoutet würde (obwohl es den Begriff des "Outens" noch nicht gab). Ich sah als einzige Möglichkeit, mich vor dem Entdecken zu schützen die Kriegsdienstverweigerung. Ich wusste, dass das kein leichtes Unterfangen bedeutete, aber selten in meinem Leben habe ich mit weniger Entschlossenheit auf ein Ziel vorbereitet.
Denn das Prüfungsverfahren galt als schwierig. Zu viele Anträge durften die »Prüfungsausschüsse«, so nannten sich diese Gremien. Es ging ihnen der Ausdruck Gewissentribunale voraus. Wenn man beim ersten Termin durchfiel, gab es einen nächsten, und wenn der keinen für den Antragsteller positiven Ausgang hatte, blieb nur noch der Gang vor das Verwaltungsgericht, in dem es zu beweisen galt, dass den beiden vorherigen Ausschüssen »Verfahrensfehler« unterlaufen waren. Es war angeraten, sich zu dieser letzten Instanz nicht ohne den Schutz der Begleitung eines Rechtsanwalts oder einer Anwältin zu präsentieren. Es gab davon glücklicherweise in größeren Städten einige. Auch heute würde man finden.
Obacht: Fangfragen!
Glücklicherweise gab es in der Bundesrepublik die Organisation der Deutschen Friedensgesellschaft - Internationale der Kriegsdienstgegner (DFG-IdK), die ihrerseits Kriegsdienstverweigerer stringent auf die Prüfungstermine vorbereitete. Zu diesen Workshops ging ich verschiedene Male, sie fanden in Bremen u.a. in der Zionskirche mit dem Pastor Friedrich Gerlach (1908 - 1984) statt. In Befragungssituationen wurde man gebrieft, die richtigen (erlaubten) Antworten wurden eingeübt, um nicht auf die Fangfragen hineinzufallen. Wie solche: »Und? Was machen Sie, denn sie mit Ihrer Freundin durch den schlecht beleuchteten Park gehen würden und Sie hätten eine Waffe, was würden Sie machen, wenn Ihnen ein Angreifer begegnete und Ihre Freundin oder Sie beide körperlich und mit einer Waffe bedrohte« und ähnliche.
Nun wird's ernst!

Dann sollte es für mich endlich losgehen! Das Prüfungsverfahren war auf den frühen Morgen des 28. Mai 1969 bestellt worden, ein paar Tage vorher hatte ich mein Abitur bestanden. Obwohl ich meinte, gut vorbereitet gewesen zu sein, konnte ich die Nacht vorher kaum schlafen. Sowohl mein Vater wie einer meiner älteren Brüder hatten beide sehr solidarische schriftliche Zeugenaussagen geschrieben und sie dem Ausschuss vorgelegt. Als ich den Saal verließ, war ich eigentlich meiner recht sicher, gerade diese beiden Zeugnisse wie aber auch meine intensive Vorbereitung auf das Verfahren konnten kaum einen anderen Ausgang nehmen, als als KDV-ler anerkannt zu werden. Lange dauerte es dann noch, bis ich wieder in den Saal gerufen wurde, eine Stunde oder gut und gerne auch mehr hatte ich bis zur »Urteilsverkündigung« warten müssen. (Anm.: Eine Dokumentation meines Verfahrens findet man unten in den Weblinks.)
Was war ich glücklich!

Aber das Verdikt lautetet dann: Anerkannt! Keine weiteren Instanzen müsste ich über mich ergehen lassen. Und viele erste Ängsten fielen schon mal von mir ab. Aber es sollte noch gute sechs Jahre dauern, bis ich allen, wirklich allen, jedem und jeder, der es hören sollte und wollte oder auch nicht - ganz wichtig: auch den Eltern! - entgegenrief "ICH BIN SCHWUL!". Der 175-er war nun wirklich irgendwann abgeschafft, in der BRD entstanden allerorten Schwulengruppen, so auch in Bremen: im November 1976 gründete sich die Schwule Aktion Bremen (SchwAB), zu der ich auch seit Anfang an dabei war. Glückliche Zeiten brachen an, bis aber auch die schon recht bald einen schweren Schlag verpasst bekamen: denn AIDS betrat die Bühne. Viele von uns damaligen Aktivisten wurden Opfer der Epidemie. Nur einige wenige entkamen ihr, auch ich hatte immenses Glück.
Und heute?
Kann man heute so wie damals den Kriegsdienst verweigern? Ja, das ist weiterhin möglich. Die glatteste Methode ist die, den Antrag vor der Vollendung des 18. Lebensjahr zu stellen. Einmal von der Bundeswehr erfasst, gemustert oder bereits zum Wehrdienst eingezogen, kann man jederzeit verweigern, sogar auch dann noch, wenn man sich womöglich bereits in kriegerischen Auseinandersetzungen befinden sollte. Allerdings erfordert jede differente Ausgangssituation verschiedene Vorgehensweisen. Aber darüber berät die sich heute Deutsche Friedensgesellschaft · Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen · DFG-VK nennende Hilfsorganisation, persönlich und engagiert:


P.S.: Ohne es beim Schreiben dieses Posts präsent gehabt zu haben, findet heute in Bremen und bundesweit ein Schulstreik gegen Wehrpflicht statt, mit dem ich mich gerne solidarisiere, aufgerufen dazu hat das
Netzwerk Friedenskooperative · Network of the German Peace Movement!
Webmails:
Reportage Gymnasium Lilienthal: Link
DFG-KG Hilfe bei der Verweigerung: Link
Statistiken der Verfolgung nach § 175 StGB von Rainer Hoffschildt: Link
Dokumentation meiner Verweigerung: Link
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