… oder auch nur 21, dann würde ich zugreifen! Zugreifen, um wieder in meinen zweitliebsten Beruf, den ich ausüben durfte, zurückzukehren, den des Buchhändlers. Ich kenne Personen, die mir diese Berufsbezeichnung streitig machen könnten, weil ich nie eine konventionelle Ausbildung in diesem Beruf absolviert habe. Aber ich erlaube es mir dennoch, mich so titulieren. Denn einiges an diesbezüglichen Erfahrungen sollten doch für mich sprechen.
Wie immer mal wieder stiegen dieser Tage Erinnerungen an meine buchhändlerische Vergangenheit und Praxis auf. Hervorgerufen durch einen Zeitungsartikel, der neulich im Bremer Weser-Kurier erschien und der in seinem Kulturteil vom Buchladen Ostertor berichtete, dessen Betreiber sich in den Ruhestand zurückziehen wollen und nun für den Laden Nachfolger suchen. Da mich mit diesem 1977 gegründeten Etablissement im Herzen des Bremer "Viertels" eine intensive bis intime sieben Jahre lange Beziehung verbindet, reizt es mich zu erzählen, wie es damals dazu kam, dass ich zu dem Projekt stieß.
Gerne bezeichne ich mich - zugegebenermaßen kokettierend - als "geborenen Buchhändler". Denn als Kind und als Heranwachsender habe ich mich mit großer Freude in der Buchhandlung meines Vaters aufgehalten, die dieser in der Bremer Pelzerstraße führte. Immer wenn wir ihn dort besuchten, ich zunächst noch an der Hand meiner Mutter, war ich fasziniert, dass es da so viele Kinderbücher gab. Vielleicht waren es gar nicht so viele, aber mir erschien es damals so.
Noch als kleiner „Steppke“ erlaubte mir mein Vater, hin und wieder das Schaufenster zu dekorieren, um mich damit meine frühe Lust, Szenarien zu kreieren, austoben zu lassen. Ich erinnere mich gut daran, dass ich irgendwann ein Kinderbuchfenster mit meinen Kasperpuppen ausstaffieren durfte, mit denen ich zuhause immer so gern Stücke aufführte. Ein wirkliches Puppentheater hatte ich nicht, ich spannte einfach die raue Wolldecke, die meine Mutter sonst als Bügelunterlage auf dem Küchentisch benutzte, in einen Türrahmen und fixierte sie mit Reißzwecken. Mein Publikum, Nachbarskinder oder die eigene Familie, saß im abgedunkelten Zimmer, und ich führte vom Wohnungsflur aus hinter der Decke verborgen meine selbsterfundenen Dramen auf. Meine Protagonisten waren Kasper, Seppl, Gretel, das Krokodil, der Schupo, einen Steiffhund als Puppe hatte ich auch. (Später tauschte ich mein Puppentheater mit dem am Bremer Goetheplatz aus: siehe hier.)
Oder ich durfte meine Märklin-Eisenbahn im Schaufenster aufbauen und sie dort laufen lassen. Was ich um sie herum als Auslage dekorierte, kann ich mich nicht erinnern, vielleicht Reiseführer oder Merian-Hefte?
Als ich größer war, besuchte ich das Gymnasium, das gerade mal 500 Meter von der Buchhandlung meines Vaters entfernt lag, und ich lief dann gerne nach Schulschluss dorthin hinüber. Wir beide fuhren etwas später zusammen mit der Straßenbahn zu uns nach Hause in Huckelriede. Wobei mein Vater immer ein Buch dabei hatte, in dem er las, eingeschlagen in eine lederne Schutzhülle, denn das Buch musste hinterher noch verkauft werden und durfte keine verdächtigen Spuren aufweisen, dass es womöglich schon vorher von jemandem gelesen worden war. Dabei rauchte er auf der Strecke seine zwei Ernte 23 - ja, das durfte man damals im Hänger noch! Ich liebte den Geruch, womit mich mein Vater aber womöglich so schon früh ‚angefixt‘ hatte, dass ich später für gute 30 Jahre ein extrem starker Raucher wurde...
Während ich auf meinen Vater im Laden auf unsere gemeinsame Straßenbahnfahrt wartete, konnte ich ihm dabei zusehen und zuhören, wie er mit seinen Kunden sprach, ihnen Bücher verkaufte, andere für sie bestellte oder ihnen andere empfahl, die nicht am Lager waren. Und was ich ganz besonders liebte war, mich bei den Besuchen der Verlagsvertreter dazuzusetzen. In späteren Jahren gelang es mir dabei gelegentlich, mich bei diesen Gelegenheiten einzumischen und den Vater zu bewegen, hin und wieder etwas zu ordern, was er als eher konservativer Mensch allein nicht bestellt hätte. Meist ließ er mich gewähren, was er fast zeitlebens in vielerlei Beziehung tat, da hatten es meine älteren Geschwister zweifellos schwerer. Ich gestehe, das Leben meinte es in dieser Beziehung gut mit mir, die Rolle als „Nesthäkchen" schützte mich, und ich lernte es auch, sie zu nutzen, gerade auch bei der Mutter.
Trotz der Nähe zu dem Berufsalltag meines Vaters, erwuchs bei mir niemals der Wunsch, es ihm nachzutun und auch diesen Beruf zu ergreifen, zumal bereits einer meiner älteren Brüder sich dazu entschlossen hatte.
Nach dem Abitur folgten dann sieben Jahre, in denen ich mich unentschlossen und wenig orientierungsfest durch den Zivildienst, verschiedene Versuche zu studieren treiben ließ, mit verschiedenen Fahrerjobs mein Geld verdiente, sogar knappe drei Jahre als Gelenkbusfahrer bei der BSAG gehörten dazu. Bis ich durch meine dann mittlerweile begonnenen und für mich wichtig gewordenen politischen Aktivitäten Leute kennenlernte, die bei mir um die Ecke am Sielwall einen alternativen Buchladen eröffnet hatten.
Dort bei diesen schnell zu Freunden gewordenen Nachbarn hielt ich mich gerne auf, zum Kaffee oder auch mal auf einen Wein, zum Schnacken, gewissermaßen wurde es zu meinem zweiten Wohnzimmer. Monika, Gitti und Holger waren es, die dort arbeiteten und den Laden im September 1977 gegründet hatten.
Gitti war aus Freiburg/Brsg. nach Bremen gekommen, mit bereits bei der "Politischen Buchhandlung Jos Fritz" erworbener alternativer Buchladenerfahrung, im Gepäck ihre zwei damals noch kleinen Söhne Achim und Mark. Monika war Goldschmiedin, hatte lange Jahre in Südamerika gelebt und konnte 1973 mit dem letzten Flieger aus Santiago de Chile vor den Pinochet-Putschisten flüchten, auch sie nicht allein, sie hatte ihren noch nicht mal zwei Jahre alten Sohn Manolo auf dem Arm. Holger hatte seinen Beruf als Buchhändler bei Bettina Wassmann erlernt, hatte sowohl in ihrer Buchhandlung Am Wall gearbeitet wie später auch ihre Dependance in der Bremer Uni geleitet.
Der Bedarf für eine alternative Buchhandlung war damals ausgesprochen groß: besonders die vielen Bürgerinitiativen in Bremen, gerade die, die in Opposition zu der Atomindustrie standen, aber auch ein recht breites Spektrum an linksorientierten und autonomen politischen Gruppierungen, Emanzipationsbewegungen wie Frauengruppen, solche für alternative Erziehung, sogenannte Dritte-Welt-Gruppen, die ersten Schritte einer Bremer Schwulenbewegung, die zu jener Zeit noch sehr offene Bremer Uni mit fortschrittlichen Hochschullehrern und -lehrerinnen, einer recht kritischen Studentenschaft, all die verlangte es nach Literatur zu ihren Themen und die führt damals und noch einige Jahre vor der Zeit des Internets in einer solch komprimierten und themenbezogenen Auswahl keine Buchhandlung.
Darum lief der Laden, damals am Sielwall nº 7, gleich neben dem "Pferdestall", heute "Eisen", von Anfang sehr gut. Und verlangte schon bald nach Verstärkung. So stieß im ersten Sommer nach der Gründung schon Knud dazu, er kam aus Berlin, mit der klassischsten Ausbildung und Berufserfahrung von allen, gelernt hatte er in Hamburg bei LIBRI in Hamburg, wechselte dann in die Werbeabteilung des Verlages Paul Parey, später leitete er auf Sylt und danach in Berlin die Filialen der damals sehr innovativen, modernen und äußerst erfolgreichen Buchhandelskette montanus.
Nun, und dann wurde ich irgendwann im Spätsommer des gleichen Jahres gefragt, ob ich mir nicht vorstellen könne, die drei Monate von Oktober bis Ende Dezember im Laden auszuhelfen, weil es auch in einem alternativen Buchladen so etwas wie ein Weihnachtsgeschäft gibt. Seit eh und je die alljährlich notwendige Umsatzspritze, ohne die keine Buchhandlung - ob traditionell oder alternativ - existieren kann. Ich willigte ein, ohne mir über die Reichweite dieser Zusage im Klaren zu sein.
Das Weihnachtsgeschäft 1978 war dann auch ausgesprochen erfolgreich, übertraf sogar bei weitem die optimischsten Erwartungen. Die Schlangen an der Kasse standen bis hinüber zum Eingang des Pferdestalls. Infolgedessen bot mir die Quadriga der Betreiber an, wenn ich denn Interesse hätte, ob ich ab dem neuen Jahr nicht bei ihnen bleiben wolle.
Längst hatte ich in den drei Monaten Blut geleckt, es war mir aber immer noch nicht gewahr geworden, dass ich da dem gleichen Broterwerb nachging wie mein Vater, was mir erst langsam und schrittweise bewusst wurde. Warum ich mich vor allem dort so gut aufgehoben fand, war die Tatsache, dass ich da das erste Mal in einer Gruppe gelandet war, die mich vollständig für voll nahm, an meinen Fähigkeiten interessiert war. Dass ich schwul war, das war zu den Zeiten in diesen Szenen schon kein Problem mehr. Dazu konnte man in so einem kleinen Laden netten Jungs oder Männern unter den Kunden leicht nahekommen (siehe auch unten: Nebeneffekte).
Die Gruppe wuchs immer näher zusammen, man kämpfte durchaus auch mit- und gegeneinander, aber nie kam es zu unheilbaren Brüchen. Das morgendliche gemeinsame Frühstück im Laden gehörte ebenso recht lange dazu, wie die sporadischen Wochenendklausuren auf dem Lande, die in meiner Erinnerung immer im kältesten Winter stattfanden, so dass man die Treffen immer in vollkommen ausgekühlten Landhäusern begann, und es dort eigentlich immer erst richtig warm war, kurz bevor man schon wieder nach Hause fuhr.
Es herrschten bei diesen Zusammenkünften niemals Rauch- oder Trinkverbote, es waren noch andere Zeiten, und wir selbst alle eine ganze Ecke, ja sagen wir's ruhig, um die 40 Jahre jünger!
Fehlen darf in dieser Liste keinesfalls der immer fröhliche Rainer, der unsere Daueraushilfe und in den ich tief verliebt war, aber der leider und so sinnlos in sehr jungen Jahren starb.
Später kamen Agnes, genannt Aki dazu und Mario, der heute noch im Laden steht, zusammen mit Andreas, mit dem ich selbst nicht mehr zusammengearbeitet habe, aber es heute sicher täte, wenn ich nicht 1985 mit meinem damaligen Freund, heute Ehemann Hartmut nach Barcelona abgehauen wäre.
Dort erwischte mich wieder das Glück, indem ich eine Frau kennenlernte, die kurz zuvor ihre eigene Literaturagentur gegründet hatte, Ute Körner. Sie konnte gerade einen dahergelaufenen Buchhändler wie mich gebrauchen - denn so verschieden vom Buchhändlerberuf ist der des Literaturagenten gar nicht. Von ihr durfte ich dann meinen zweiten Lieblingsberuf erlernen. All das ist aber Thema für einen ganz eigenen BLOG-Beitrag, den es bereits gibt: siehe hier.
Und auch Gitti verließ den Laden irgendwann, der Liebe wegen nach Berlin, Monika der Sehnsucht wegen zurück nach Amerika, nach Nicaragua, Holger wurde wegen seiner Lust sich zu verändern Kinobesitzer in der Schauburg und später Betreiber des Musik-Clubs Moments, und heute führt er im Fedelhören einen Laden für Herrenmode, KONTRAST · Männermode heißt er. Aki wechselte irgendwann auch ins Moments und später ins Café des Atlantis Kinos. Und Knud geniesst seit mittlerweile vielen Jahren seinen Ruhestand und seine Liebe zur Musik und zu seiner Familie.
Traurige Realität ist, dass alle drei unserer geliebten Kolleginnen nicht mehr leben. Alle Drei waren sie wunderbare, starke Frauen, die uns übriggebliebenen Männern nach wie vor sehr fehlen. Aber auch das gehört - leider - zu so einer langen Geschichte dazu.
Und ich kehrte mit Hartmut nach guten dreißig Jahren Leben und Arbeit in Spanien 2016 wieder nach Bremen zurück und bin ein leidenschaftlicher Rentner geworden.
Nun aber zurück nach Bremen: Mario und Andreas wollen sich nun aber auch ihren Ruhestand gönnen, wünschen sich aber gleichzeitig, dass der Laden, der nun gute vierzig Jahre erfolgreich seinen Standort und seine Existenzberechtigung verteidigt, am Leben bleibt. Nicht nur aus nostalgischen Motiven meine ich, dass ihm eine weitere vielversprechende Zukunft attestiert werden kann. Er hat einen soliden, naturgemäß immer noch ausbaufähigen, treuen, generationsübergreifenden Kundenstamm, eine 1a Lage, ist bestens an den ÖPNV angeschlossen, ideal mit dem Fahrrad erreichbar, hat schöne große Schaufenster, beste Mietvoraussetzungen und viele weitere Vorteile.
Also ich - siehe oben: wenn ich 22 Jahre jünger wäre... In der Tat, ich würde den Laden sofort übernehmen. So freue ich mich schon auf die neuen Betreiber, die sich sicher finden werden. Und so lege ich hier auch meine Unbefangenheit ganz bewusst und überaus gerne beiseite:
Ich will, dass es diesen schönen Laden weiter gibt!
Nebeneffekt:
Was noch - und dies sei nicht ganz unter den Tisch zu kehren - für diesen Beruf spricht: man kann wunderbar flirten! Bei nur wenigen in der Öffentlichkeit ausgeübten Tätigkeiten kann man so unbefangen auf eine den Laden betretende Person zugehen mit der Frage: „Kann ich helfen?“. In einem Buchladen nimmt einem das keiner krumm. Wenn die Frage – knurrig oder freundlich – verneint wird, kann man gut und gerne noch daran hängen: „Wenn doch, einfach Bescheid sagen!“
Auch an der Kasse kann man sich noch eine Plauderei erlauben, ohne dass man dumm auffällt. Und da man als Buchhändler die Fähigkeit besitzen oder - wenn noch nicht vorhanden - sie sich unbedingt aneignen sollte, einen Kunden oder eine Kundin wiederzuerkennen, wenn sie oder er das nächste Mal den Laden erneut besuchen und man sich dann sogar noch daran erinnert, welches Buch man der Person verkauft hat, dann ist eine erste Bindung gelungen.
Ich gestehe, dass ich aus Erfahrung spreche: aus einem eines solchen Flirts hat sich für mich eine Liaison eröffnet, die nach bald 40 Jahren oder auf den Tag genau heute nach 38 Jahren, 5 Monaten und 19 Tagen oder 14.502 Tagen immer noch existiert, mit der ich nicht nur nach deutschem, sondern vorher schon nach spanischem Recht verheiratet bin.
Das komplette Dossier zur Suche nach Nachfolgern:
Reaktionen:
»Ach, Guenny, das ist doch ein wunderbarer Text! Vielen Dank. Ich hoffe auch, dass der Laden nicht nur in der Form, sondern auch im selben Geist weitergeführt werden kann.« - I.W., Bremen
»Als Ex-Bremer, der seit über 30 Jahren im Exil in Südwestdeutschland lebt, wünsche ich dem Buchladen von ganzem Herzen eine gute, linke Zukunft!!« - E.B., Freiburg i. Brsg.
»SUUUPER!!! Toll, dass du auch immer wieder neue Fotos rausrückst!« - G.G., Sitges
»Du lieber Alter, mit Nostalgie, wie Du, und mit Freude habe ich mich durch Dich in unserer Vergangenheit gebadet.« - W.V., Montpellier
»Es war 'ne schöne Zeit, und richtig hübsch sieht du aus.« - H.H.H., Alájar
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