Leser werden sehr früh geschaffen, das fängt mit dem Vorlesen an, dann irgendwann bald zum ersten eigenen, über das schon schnellere Lesen, dann der fließende Übergang hin zum Schmökern und Verschlingen ganzer Serien. Über und unter der Bettdecke, und wohl immer noch am liebsten auf bedrucktem Papier und mit Bildern, erst ganz vielen, später reichen auch ausgesucht wenige, die das Lesen zusätzlich stimulieren und den Inhalt des Gelesenen durch das illustrative Erleben noch tiefer ins Gedächtnis einbrennen. Ich habe Lust, einfach mal ein paar Tipps zu geben, einige gehen dabei in meine eigene Lese-Kindheit zurück, andere folgen einfach meinen ganz persönlichen Vorlieben.
Meine Vorschläge setzen sich zusammen aus Empfehlungen auf Bücher aus meinen eigenen Kinderjahren, meiner Zeit als Buchhändler, Literaturagent und als heutiger neugierig den Markt observierender Bibliophiler. In meiner Agentur in Barcelona vertraten wir eine große Zahl von Kinderbuchverlagen aus aller Welt, vor allem aus Deutschland, den USA, Italien und Japan, zwischen 40 % und 50 % unserer Gesamtjahresumsätze an Kommissionen machten Kinder- und Jugendbücher aus. Ein gutes Kinderbuch hält sich viele, viele Jahre in den Katalogen der Verlage und in den Buchhandlungen (und Bibliotheken!) und ist in der Mehrheit der Fälle keinen Mainstreams unterworfen. Eine gut sortierte Backlist eines Kinderbuchverlages schützt vor manchen Krisen. Und manche schaffen es sogar - dann aus guten Grund - in den ewigen Kanon der Kinder- und Jugendbuchliteratur.
Wegen der momentanen Situation über die Feiertage und die Weihnachtsferien wäre es sicher kein Fehler, auch gleich mehrere Bücher an die Kinder zu verschenken. Zeit genug zum Vorlesen & Lesen wird es geben, denn manch Besuch des buckligeren Teils der Verwandtschaft dieses Jahr nicht einreisen wird, sogar gar nicht darf...
Ab 4 Jahren:
Bremer Kinder sollten früh und wollen mit der Geschichte der Bremer Stadtmusikanten bekannt gemacht werden. Eine wunderschöne Variation hat der mexikanische Künstler Gabriel Pacheco illustriert, dazu hat man den originalen Text der Brüder Grimm beibehalten, ohne ihm eine übertriebene Kindersprache über zu stülpen. So beginnt das Buch mit den bekannten Sätzen: "Es hatte ein Mann einen Esel, der schon lange Jahre die Säcke unverdrossen zur Mühle getragen hatte, dessen Kräfte aber nun zu Ende gingen, sodass er zur Arbeit immer untauglicher ward." Und so weiter, bis der Esel, der Hund, die Katze und der Hahn bis kurz vor Bremen kommen. Den Rest der Geschichte kennen wir alle, aber die Kleinen noch nicht oder wollen sie gerne ein weiteres, neues Mal hören und ansehen.
Brüder Grimm / Gabriel Pacheco: Die Bremer Stadtmusikanten
Bohem Press, Affoltern am Albis 2020 | 32 Seiten | € 19,95
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Ab 4 Jahren:
Eines meiner meistgeliebten Kinderbücher, das ich zu meinem siebten Geburtstag von meinen Eltern geschenkt bekommen hatte, ist Paul allein auf der Welt des Autors Jens Sigsgaard und des Zeichners Arne Ungermann, das bereits 1943 das erste Mal in seiner dänischen Originalversion erschien, 1949 dann das erste Mal auf Deutsch, damals im Altberliner Verlag. Dann war es lange Zeit vergriffen, ist aber glücklicherweise seit 2016 wieder im Handel. Es ist die Geschichte eines Traums, der zunächst eben traumhaft schön verläuft, dann aber ganz plötzlich im wahrsten Sinne in die Tiefe abstürzt. Aber keine Angst: Ende gut, alles gut! Wie es sich doch für ein Kinderbuch gehört, oder?
Jens Sigsgaard / Arne Ungermann: Paul allein auf der Welt
Eulenspiegel Verlag, Berlin 2016 | 52 Seiten | € 9,95
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Ab 5 Jahren:
Ich war am überlegen, ob ich dieses Buch mit in meine Geschenkvorschläge aufnehme, denn es behandelt ein trauriges Thema. Aber warum eigentlich nicht? Denn kann es denn nicht sein, dass eines der Kinder, die man beschenken möchte, genau einen solchen Verlust erlitten hat, wie die kleine Karla, um die es in Opa und der fliegende Hund der Bremer Autorin Anna Lott geht? Denn Karla hat ihren Großvater verloren, und das Buch geht darum, wie es ihr mit Hilfe ihrer Lieben, einem zugelaufenen Hund und einem Traum gelingt, den Tod des geliebten Opas zu verwinden. Leider ist es eine Tatsache, dass so manche Enkel in diesen Monaten ihre Großeltern verlieren...
Anja Grote bebildert die traurig-hoffnungsvolle Geschichte mit phantasievollen und ermutigenden Bildern.
Das Buch wurde für den LovelyBooks Leserpreis in der Kategorie Kinderbuch nominiert, nicht die schlechteste Ehre, denn dieser Preis ist der größte von Leser*innen vergebene Buchpreis im deutschsprachigen Raum.
Anna Lott / Anja Grote: Opa und der fliegende Hund
Arena Verlag, Würzburg 2020 | 32 Seiten | € 13,00
Ab 6 Jahren:
Nach Lindbergh (2014), Armstrong (2016) und Edison (2018) legt Torben Kuhlmann jetzt schon den vierten Band der Abenteuer seiner fliegenden und tauchenden Maus vor: Einstein. Dieses Mal baut sie sich mit ihrer kongenialen unkonventionellen Phantasie und sich die Theorien Albert Einsteins zunutze machend eine Zeitmaschine und erlebt, wie auf all ihren vorherigen Reisen und Expeditionen, wieder ein aufregendes spannendes Abenteuer. Abgesehen von einer wieder sehr originellen Geschichte, ist das Bilderbuch wieder der reine Augenschmaus für Kinder (und Erwachsene!).
Die ganze Welt der Maus & ihres Schöpfers Torben Kuhlmann eröffnet sich hier.
Großartig auch die Hörbuch-Produktionen der vier Bände, featuring all Bastian Pastewka (alle im Hörbuch Verlag erschienen).
Torben Kuhlmann: Einstein
Die fantastische Reise einer Maus durch Raum und Zeit
NordSüd Verlag, Zürich 2020 | 128 Seiten | € 22,00
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Ab 6 Jahren.
Mein Vater hatte als Buchhändler einen sehr guten Ruf, aber als Versorger seines jüngsten Kindes (das war ich) mit Lesestoff bewies er ebenso sehr gutes Augenmaß. Sehr früh hatte ich angefangen, recht geschickt zu malen und zu zeichnen (ein ganz paar wenige Zeugnisse gibt es noch). So lag es nahe, mir das Buch Punkt, Punkt, Komma, Strich des Schweizer Kunsthistorikers, Plastikers, Illustrators, Grafikers und Autors Hans Witzig (1889-1973) zu schenken (er brachte uns Kindern oft Bücher aus seiner Buchhandlung mit nach Hause). Ich liebte dieses Buch, habe viel darin herum gemalt. Nach den einleuchtenden, drolligen und nachvollziehbaren Vorlagen gewinnt die eigene kindliche "künstlerische" Kreation viel an Sicherheit und Originalität. Leider existiert mein damaliges Exemplar nicht mehr. In Deutschland erschien es das erste Mal bei Ernst Heimeran in München 1944 (siehe das Bild oben). Mittlerweile gibt es das Büchlein wieder, für wohlfeile fünf Euro.
Hans Witzig: Punkt, Punkt, Komma, Strich--
Bassermann, München 2016 | 128 Seiten | € 5,00 | Gibt's auch asl ebook für € 4,49
Ab 10 Jahren:
Nicht alle Tage kommt es vor, dass ein Bremer Kinderbuchautor in die Verlegenheit gerät, den hoch begehrten & anerkannten Deutschen Jugendbuchliteraturpreis in Empfang nehmen zu dürfen. Das gelang in diesem Jahre aber Will Gmehling, wenn auch aus bekannten Gründen nur per Videoschaltung, aber dennoch vom Autor mit sehr großer Freude entgegengenommen. Wie sein Titel vermuten lässt, spielt der Kinderroman im Sommer. Das tut der Sache und einer Lektüre aber keinerlei Abbruch, erzählt Gmehling doch eine Geschichte von den drei Geschwistern der Familie Bukowski, die genauso oder ähnlich im Winter passieren könnte. Außerdem können sich die Leser so schon einmal freuen, dass es bald wieder einen Sommer gibt, in dem man (hoffentlich!) wieder ein Freibad besuchen und nutzen darf!
Will Gmehling: Freibad · Ein ganzer Sommer unter dem Himmel
Peter Hammer Verlag, Wuppertal, 2019 |160 Seiten | € 14,00
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Ab 10 Jahren:
Ein anderes frühes Kinderbuch ist Kattenhorns Pferd, das ich damals zwar noch nicht selbst lesen konnte, es wurde mir auch nicht vorgelesen. In irgendeiner Ecke des väterlichen Bücherschranks hatte ich es entdeckt. Es war auf noch grobem Nachkriegspapier im breiten Oktavformat gedruckt, im Bremer Schlüssel Verlag erschienen 1948. Mich faszinierten die Illustrationen, die keinen sehr hohen grafischen Wert haben, aber vielleicht deshalb, weil sie mir so erschienen, als hätte ich sie selbst malen können. Sie stammen vom Autor des Buches Fritz Theodor Overbeck (1898-1983), Sohn des Worpsweder Malers Fritz Overbeck und dessen Frau Hermine Overbeck-Rothe, der die Geschichten um dieses Pferd der Worpsweder Bauernfamilie zusammen mit seinen Geschwistern von seinem Vater erzählt bekommen hatte.
Er schrieb sie als Soldat wiederum für seine Kinder auf und dichtete die eine oder andere Episode dazu. Er selbst war ein hoch anerkannter Botaniker. 1974 gab es eine Neuausgabe, bei der wiederum mein Vater seine Finger im Spiel hatte: zusammen mit seinem langjährigen Verlegerfreund Friedrich Röver brachte er das Buch in dessen Verlag heraus. Man kann das Buch auch heute noch ohne Bedenken Kindern schenken, zumal es seit 2017 wieder in einer neuen Ausgabe mit sehr animierenden Illustrationen der seit 2001 in Bremen lebenden Grafikerin Felicitas Blech bei der Edition Temmen existiert.
Fritz Theodor Overbeck / Felicitas Blech: Kattenhorns Pferd
Edition Temmen, Bremen 2017 | 120 Seiten | 50 Abbildungen | € 12,90
Ab 12 Jahren:
Diese Geschichte von Andreas Steinhöfel ist bereits die fünfte Folge der Romane um Rico & Oscar und nach der Aussage des Autors damit auch wohl die letzte. Wer weiß, ob er damit "durchkommt", denn der Protest der mittlerweile millionenfachen Lesergemeinde in Deutschland und in vielen anderen Ländern der Welt um die beiden Berliner Jungen wird laut & heftig ausfallen...
Es geht jedenfalls um die Freundschaft zweier Jungs, einmal dem zehnjährigen Rico, der mit seiner alleinerziehenden, ihn liebenden Mutter in der Nummer 93 der Kreuzberger (und tatsächlich existierenden) Dieffenbachstraße, der Dieffe, wohnt, und dem zwei Jahre jüngeren, aber eben hochbegabten Oskar. Die Mutter arbeitet in einem Nachtclub und ansonsten leben eigentlich nur skurrile Charaktere in dem Mietshaus auf dem Kiez und viele ebenso sonderbare Geschichten bevölkern diese fünf Romane, die obendrein von den kongenialen Illustrationen von Peter Schössow noch gekrönt werden. Man kann von den Romanen nicht mehr lassen, wenn man sich erst einmal in einen der Bände verliebt hat, egal mit welchem man gestartet ist! Und einsteigen kann man mit jedem Band.
Andreas Steinhöfel: Rico, Oskar und das Mistverständnis
Carlsen Verlag, Hamburg 2020 | Seiten | € 16,00
Mit den Illustrationen von Peter Schössow
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Ab 12 Jahren:
Seit vielen, ich denke seit guten vierzig Jahren bin ich Liebhaber der Bilder und dem Lebensverlauf von David Hockney und freue mich, Freunde zu haben, die diese Zuneigung bis Liebe teilen. Im vergangenen Jahr erschien dieses wunderbare Buch, das D.H. zusammen mit dem Kunstkritiker Martin Grayford geschrieben hat, bzw. das aus einem, das ganze Buch durchziehenden Gespräch der beiden miteinander besteht und das von Rose Blake illustriert wurde. In einer Tournee durch die Geschichte der Bilder - das beginnt mit den Höhlenmalereien in Les Combarelles, reicht über sämtliche Epochen der Kunstgeschichte und geht bis hin zu Kreationen, die heute auf dem iPad entstehen - integriert Rose Blake in ihre eigenen Illustrationen viele Hockney-Bilder, die einem alle bekannt sind. Ein wunderbares Bilderbuch für junge Menschen, um ihnen Spaß an der Kunst zu vermitteln.
David Hockney / Martin Grayford / Rose Blake (Ill.): Die Welt der Bilder für Kinder
Midas Verlag, Zürich 2019 | 128 Seiten | € 19,90
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Bis 100 Jahren & älter:
Und wo wir gerade dabei sind, hier eine Empfehlung für die Erwachsenen, die Kindern den "Kinder-Hockney" schenken wollen. Es gibt von dem gleichen Autorenpaar Hockney & Grayford ein ebenso geschnittenes Buch, nur viel umfangreicher und tiefgehender, aber in dem der Maler und der Kritiker ebenso, fast die ganzen gut 350 Seiten lang ein Gespräch über Kunst und ihre Entwicklung führen. Es ist angefüllt mit vielen Bildzitaten, auf die sich in ihrer Unterhaltung beziehen. Ein Geschenk für alle Hockney- und Kunstfans und alle, die es noch werden wollen! Und das alles zu einem extrem wohlfeilen Preis von nur € 20,00.
David Hockney / Martin Grayford: Welt der Bilder
Sieveking Verlag, München 2018 | 360 Seiten | 310 Abbildungen | € 20,00
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Ab 14 Jahren:
Hierher gehört jetzt noch ein anderes Buch, diesmal ein Jugendbuch, ebenfalls von Andreas Steinhöfel geschrieben, das mir sehr am Herzen liegt und mir sicher, hätte es den Roman damals schon gegeben, in meiner jahrelangen Krise als Jugendlicher geholfen hätte. Ich kämpfte seit meiner Pubertät damit, mein Schwulsein einerseits zu bekämpfen, weil es nicht sein durfte, es mir andererseits immer wieder - gerade durch meine Phantasien und erste sexuelle Erfahrungen - klar war, dass ich am Ende diesen Kampf verlieren würde. In diesem Roman Die Mitte der Welt geht es um das Erwachsenwerden, die Pubertät, Freundschaft und Liebe, und eben auch die schwule, am Ende allerdings dort nicht mögliche Liebe zwischen den beiden gleichaltrigen Jungen Phil und Nicholas. Viele Jugendliche kämpfen heute noch fast genauso gegen die gesellschaftlichen Vorurteile wie ich damals, wenn sie ihre Neigung entdecken. Gerade an Schulen ersetzt heute das Mobbing den zu meiner Zeit noch über uns drohenden § 175. Ein nach wie vor wichtiges Buch zum Thema Coming-Out und aber gleichzeitig wunderschön zu lesen.
Basierend auf diesem Buch entstand 2016 ein zauberhafter Film mit dem gleichen Titel, mit Louis Hofmann als Phil und Jannik Schümann als Nicholas, in der Regie von Jakob M. Erwa. >>> Mehr zum Film
Andreas Steinhöfel: Die Mitte der Welt
Carlsen, Hamburg 1998 | 472 Seiten | € 19,99 (auch als eBook und Taschenbuch erhältlich)
Vielleicht habe ich auf diesem Wege manchem oder mancher einen Tipp geben können. Ich hoffe, ich habe nicht zu viel Unverständnis hervorgerufen, dass ich mit dem einen oder anderen Hinweis so tief in die Geschichte des Kinderbuchs hinabgestiegen bin, aber es schlummern da manche Schätze, die meiner Meinung nichts an Lebendigkeit eingebüßt haben und nicht vergessen werden sollten.
Reaktionen:
»Danke Guenny, sehr nützlich!!!« - Sigrid Kraus, Verlegerin - Barcelona
»Das ist ja wunderbar! Habe aus den Empfehlungen auch gleich einen Tipp notiert: Die Welt der Bilder für Kinder ...« - Edition Temmen
»Es freut mich sehr, dass Sie mein Buch "Einstein" aus Ihrem Blog als Geschenk-Empfehlung vorstellen. Mit Freude habe ich Ihre lobende Rezension gelesen.« - Torben Kuhlman, Autor
»Toll, dass Sie Bücher vorstellen und Anja Grote und ich mit unserem Buch "Opa und der fliegende Hund" in Ihrem Repertoire sind.« - Anna Lott, Autorin
»Wie schön - danke für Schmeichlung und Ehrung :))).« - Andreas Steinhöfel, Autor
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